Donnerstag, 31. Juli 2014

Im Schloss des Lichts

Vor ein paar Tagen habe ich das neue „Lichtschloss“ von Riga besucht. Ein gigantischer Bau, der alles übersteigt, was man jemals in Lettland errichtet hat. Noch in Jahrhunderten wird es vermutlich als bedeutendstes Bauwerk des Landes gelten, und seinem Architekten, Gunnar Birkerts (lett:Gunārs Birkerts), ein US-Amerikaner lettischer Abstammung, wird man irgendwann möglicherweise ein riesiges Denkmal errichten.
Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Aber im Ernst, das Bauwerk gilt als DAS Architektur-Aushängeschild im Kulturhauptstadtjahr 2014. Dabei wurde es völlig unabhängig davon, noch bevor überhaupt bekannt war, das Riga jemals die Kulturhauptstadt Europas werden würde, geplant. Quasi mit Beginn der Unabhängigkeit Lettland begann Herr Birkerts bereits Anfang der 1990er Jahre Pläne zu schmieden, wie so eine neue Bibliothek, die alle Bücher der sechs bisherigen Filialen der Nationalbibliothek vereinigen sollte, aussehen könnte. Und, man mag es glauben oder nicht, das Gebäude hätte eigentlich noch viel größer ausfallen sollen. Um ein Drittel größer! Hat man mir zumindest so gesagt, als ich mir das „Kunstwerk“, muss man ja schon fast sagen, im Rahmen einer Führung von innen habe anschauen dürfen. Mit Tiefgarage sollte es gebaut werden, aber nun ist es eben kleiner geworden, und die armen Autofahrer müssen jetzt, oder besser gesagt, irgendwann einmal, wenn der Parkplatz endgültig fertig ist, ein paar Minuten laufen, bevor sie das neue Heiligtum Lettlands betreten.


Der Grund für diese beinahe schon maßlose Verkleinerung dürfte in den Kosten liegen. Nun muss der lettische Steuerzahler „nur“ rund 200 Millionen Euro für den Bau hinlegen. Und das in einem Land, das sich noch vor ein paar Jahren 4,4 Milliarden Euro vom IWF leihen musste. Aber diese Schulden sind längst getilgt, dank der Einsparungen, die die Politiker durchgesetzt haben. So wurden vor einigen Jahren vor allem im öffentlichen Sektor die Gehälter um durchschnittlich 25 Prozent gekürzt. Und für die Rentner, die mit ca. 300 Euro im Monat auskommen müssen, oder die unzähligen Menschen, die in den Müllcontainern der Vorstädte Lebensmittel suchen, oder die hervorragenden Straßenmusiker, die keine Stelle gefunden haben, ist so ein überdimensioniertes Bauwerk sowieso nicht mehr erklärbar. Da können einem dann auch schon mal die Worte fehlen.

Macht nichts. Geht mich ja nichts an. Könnte ich denken. Aber es regt mich auf. Und auch, wenn das „Lichtschloss“ einige schöne Seiten hat, und auch, wenn mir die Initiative während der Eröffnungsfeierlichkeiten zum Kulturhauptstadtjahr im Januar 2014, als Tausende Bürger bei über Minus zehn Grad eine Menschenkette zwischen alter und neuer Nationalbibliothek bildeten und von Bürgern gespendete Bücher von Hand zu Hand weiterreichten und so in Birkert's Bauwerk brachten, wo sie nun hinter einer riesigen Glasscheibe quasi solidarisch darauf hinweisen sollen, dass diese Bibliothek allen Letten gehört und hier, hinter diesem gigantischen Bücherregal, auf mehreren Stockwerken, ideal klimatisiert und meistens im Dunkeln, das nationale lettische Vermächtnis liegt, kann ich persönlich mich nicht mit diesem Haus anfreunden.


Den meisten Letten scheint es aber zu gefallen, so zumindest ist mein Eindruck. Aber mal abwarten, wie sich die Sache entwickelt. Und im übrigen geht es ja um viel mehr. Es geht um Nationalbewusstsein. Um ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Darum, dass dieses Land nun endlich dauerhaft unabhängig sein möchte, seine eigene Sprache sprechen und seine eigene Kultur bewahren möchte. Und deswegen ja auch die auffällige Form: Nach einer lettischen Sage gab es nämlich einmal ein Schloss des Lichts, dass vor langer Zeit versunken ist und erst dann wieder aufsteigen würde, wenn das lettische Volk frei und unabhängig ist. Darüber hinaus spielt der Architekt auch auf ein Drama „Das goldene Ross“ des lettischen Nationaldichters Rainis (eigentlich Jānis Pliekšāns (1865–1929)) an, in dem eine Prinzessin auf dem Gipfel eines Glasberges zum ewigen Schlaf verdammt ist, bis jemand den steilen Berg bezwingt und sie damit erlöst.

Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Alles schön und gut. Ich verstehe ja auch die Notwendigkeit einer neuen Nationalbibliothek, denn die alten Gebäude waren und sind nach wie vor baufällig und hätten einer dringenden Renovierung bedürft. Tja. Nun hat Riga eben einen zentralistischen Bau, in dem alle wichtigen Bücher des Landes zusammengeführt, in dem überdies aber auch noch eine Universitätsbibliothek, ja, und auch noch eine öffentliche Bibliothek untergebracht sein werden (noch ist es ja nicht so weit - die vollständige Eröffnung findet erst Ende August statt). Alles unter einem Dach. Nett. Hätte man auch anders machen können. Ich bin mir nicht sicher, ob das mit dem Lichtschloss so wichtig war. Aber mich fragt ja keiner...

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Dienstag, 29. Juli 2014

Nachbarschaftliche Selbstportraits

Was sehen die meisten Touristen, wenn sie Riga besuchen? Natürlich die Altstadt, vielleicht auch die sogenannte Neustadt mit den Jugendstilhäusern, auf jeden Fall auch noch den Weg zum Flughafen. Welcher Eindruck bleibt? Möglicherweise der, dass Riga eine schöne Stadt ist, eine Stadt, die sich anscheinend gut entwickelt hat, die auf dem Weg ist, westeuropäisches Niveau zu erreichen (wenn das in der heutigen Zeit überhaupt noch ein Merkmal für etwas Positives ist).

Was den meisten Reisenden aber verschlossen bleibt, ist, wie so oft, das weniger ansehliche Alltagsleben der Einwohner. Insgesamt 58 Nachbarschaften (mikrorajoni) gibt es in der Stadt, die meisten davon sind Wohngebiete, vor allem Plattenbausiedlungen am Stadtrand wie Pļavnieki im Osten oder Ziepniekalns im Westen. Näher an der Altstadt liegen die von alten, meist unrenovierten Holzhäusern geprägten Viertel wie die Moskauer Vorstadt (Maskavas forštate), Āgenskalns oder Torņakalns. Sie alle haben ihre ganz eigene Atmosphäre.Während manche Stadtviertel immer mehr junge Menschen anziehen und als trendy gelten, haben andere mit verstärktem Wegzug und Leerstand zu kämpfen. Was es aber in beinahe allen der 58 Nachbarschaften zu wenig gibt, sind kulturelle und sozialen Projekte.  

Um die Einwohner in das Kulturhauptstadtprogramm , hat die Stiftung Riga 2014 mehrere Projekte angeschoben, die eines der sieben Kapitel des Gesamtprogramms ausmachen. “Road Map” heißt es, kuriert wird es von der Theatermacherin und Leiterin des Lettischen Neuen Theaterinstituts, Gundega Laiviņa. Zahlreiche kleinere, von der Öffentlichkeit kaum registrierte Projekte wurden bereits umgesetzt, sei es die Säuberung und Neugestaltung von bislang als Drogenumschlagplatz genutzten Hinterhöfen oder die Eröffnung der Ziemeļblāzma Sonntags-Kunstschule.

Ein ganz besonderes und auch langwieriges Projekt waren die Foto-
Workshops, an denen Einwohner von Kengarags, Bolderāja, Jugla und anderen Vierteln von Riga zwischen 2012 bis 2014 teilnahmen, um ihre fotografischen Selbstporträts mit der Hilfe von ausländischen und/oder lettischen Fotokünstlern wie Vesa Aaltonen, Kaspars Goba, Andrejs Strokins, Andris Kozlovskis, Vincen Beeckman, Bahbak Hashemi-Nezhad, Eva Voutsaki und Iveta Vaivode zu erstellen. Eine Auswahl der Selbstporträts wurde nun für ein paar Wochen im Rahmen der Ausstellung Riga Self/portraits in einer stillgelegten Tabakfabrik präsentiert. 





Gezeigt wurden auch eine Auswahl von Selbstporträts (oder Portraits), die die Bewohner eingeschickt hatten. 


Vincen Beeckman (B) lud im März 2013 Passanten auf dem zentralen Busbahnhof von Riga und in einem Shoppingcenter in Imanta dazu ein, Bilder von sich in der guten alten Fotokabine machen zu lassen. Sie ist ja heutzutage schon beinahe aus der Mode gekommen - dank der Möglichkeit, Selfies mit Smartphones zu schießen und diese sofort in allen möglichen sozialen Netzwerken verbreiten zu können.

Ein ganz besonderes Projekt war der Workshop von Iveta Vaivode (LV), die die Bewohner eines Blindenheims im ehemaligen Herrenhaus Strasdenhof (Strazdumuiža) in Jugla dazu animierte, ihr eigenes Selbstbildnis aus Ton zu erschaffen. 


Die persönliche Geschichte reflektieren ließ die Künstlerin Eva Voutsaki (GR/UK), indem sie die Teilnehmer des Workshops aus  Bolderāja, einem Stadtteil mit einem extrem hohen Anteil russischsprachiger Bevölkerung, dazu brachte, alte Familienfotos zu bearbeiten.


Dagegen unternahm Bahbak Hashemi-Nezhad (UK) mit seinen Leuten mehrere Spaziergänge  durch Bolderāja. Es entstanden Aufnahmen, die die Bewohner aus einiger Entfernung zeigen.


Bei mir blieb nach dem Verlassen der Ausstellung der Eindruck, dass es genau diese Projekte sind, die eine dauerhafte Wirkung entfachen - im Kleinen. 

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Mittwoch, 23. Juli 2014

Touristen unter sich

Riga ist leer, Riga ist voll, es ist eine komische Atmosphäre in der Stadt. Am Wochenende haben die 27 000 Sänger der über 400 Chöre, die Riga zehn Tage lang in Atem hielten, wieder verlassen. Und die Organisatoren der „World Choir Games“ haben in der Arena Riga nochmals eine bombastische Abschlussfeier auf die Beine gestellt, die – sicher nicht unabsichtlich – doch sehr an die Olympischen Spiele erinnerte, nur das alles um ein Vielfaches kleiner von statten ging.

Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Mir war vorher gar nicht klar, dass man für diesen Wettbewerb eine eigene Hymne und Flagge hat komponieren bzw. entwerfen lassen. Dem war aber so (nun weiß ich es). Natürlich wurden wie bei der Eröffnungsfeier nochmals die Fahnen aller teilnehmenden Länder auf die Bühne gebracht. Ein riesiger Chor, das lettische Sinfonieorchester und verschiedene (großartige) Solosänger präsentierten dann gekonnt Welthits wie beispielsweise von Elton John, Michael Jackson, Mikis Theodorakis oder ABBA, bis die Zuschauer aus dem Häuschen waren und der Saal bebte.

Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Dass zwischendurch ein paar kurze Reden der lettischen Kultusministerin Dace Melbārde, des Bürgermeisters von Riga, Nils Ušakovs oder von Günter Titsch, dem Präsidenten von Interkultur angehört werden mussten, störte niemanden im Publikum, denn es ging ja gleich weiter, bis am Ende goldener Lametta-Regen vom Hallendach auf die Zuschauer rieselte. Stimmung pur. Perfekt inszeniert. Aber auch absolut wirkungssicher. Am Ende blieb mir der Gedanke, dass hinter all dem vielleicht doch nicht ganz so viel Idealismus steckt, sondern, ganz nebenbei, auch finanzielle Interessen. Immerhin macht der Veranstalter Interkultur einen Gewinn mit den World Choir Games, soviel ist sicher.

Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Doch zurück zu Riga. Die Sänger sind weg und damit auch die tolle Atmosphäre. Stattdessen scheint die Tourismuswelle in der Altstadt ihrem Höhepunkt entgegen zu steuern. Ein Bus nach dem anderen lädt seine Reisegruppen ab, die in Eile durch die historischen Gassen stapfen. Auf dem Livenplatz (Līvu laukums) wird in den Straßencafés so laut Musik gespielt, dass man keine normale Unterhaltung mehr führen kann. Dagegen scheinen die meisten Einheimischen in den Urlaub gefahren zu sein, oder nach Jūrmala, dem 60 000-Einwohner-Badeort vor den Toren von Riga. Dort läuft gerade der russischsprachige Schlagerwettbewerb "Новая Волна" (Neue Welle), in dem sich hoffnungsvolle Gesangstalente aus allen ehemaligen Sowjetrepubliken vor laufender Kamera von den Etablierten der Szene demütig Noten von eins bis zehn geben lassen. Dieser Event geht noch bis zum Wochenende, bis dahin ist der Dzintari-Konzertsaal weitläufig abgesperrt, damit die Stars und VIP's, die in großer Zahl auch aus Moskau angereist sind, „standesgemäß“ empfangen werden können. Vor den Absperrungen harren die Fans geduldig aus, um vielleicht einen Blick zu erhaschen oder ein Autogramm zu ergattern.

Für mich ist es nun Zeit, inne zu halten und mich zu fragen, ob ich bisher getan habe, was ich tun wollte bzw. ob ich erreicht habe, was ich geplant habe. Ich denke, nein, das habe ich nicht, denn es gibt noch so viel, über das ich schreibe könnte, gerne schreiben würde. Und zwar viel mehr über persönliche Begegnungen, weniger über Veranstaltungen. Viel mehr wirkliche Auseinandersetzung mit dem Erlebten oder Gesehenen als pure Beschreibung. Riga, die Stadt, die ich schon so lange kenne und nun neu kennen lernen wollte, ist mir gerade entglitten und kommt mir ein wenig fremd vor.

„Du musst noch aktiver sein!“, „Du musst noch mehr unter die Leute gehen!“, „Du musst genauer sein“, „Du musst schneller sein!“ höre ich meine innere Stimme sagen. Schneller? Schneller von Eindruck zu Ausdruck kommen? Dran bleiben an einer Sache und sie nicht liegen lassen? Die Sachen, die anliegen, gleich erledigen? Vermutlich von allem etwas. Da bin ich selbst gespannt..
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Dienstag, 22. Juli 2014

Chorfest mit 27 000 Teilnehmern

Seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, als befände ich mich gerade im Zentrum des Weltgeschehens. Das ist natürlich maßlos übertrieben, aber die 27 000 Teilnehmer der 8. World Choir Games in Riga, übrigens vom Verein "Interkultur" in Gießen organisiert, machen schon einen großen Eindruck auf mich, wie sie so in kleineren oder größeren Gruppen gut gelaunt durch die Straßen von Riga laufen, meistens auf dem Weg zu einem der zahllosen Konzerte, die in verschiedenen Sälen stattfinden, sei es in der Großen Gilde, die das Lettische Nationals Symphonieorchester sonst sein Zuhause nennt, oder in der Arena, wo sonst Eishockeyspiele ausgetragen werden oder internationals Popstars auftreten.

Es ist ein fantastisches Klima in der Stadt, und das Wetter spielt auch mit. Die Konzerte sind hervorragend besucht, was mich überrascht, denn ich ging davon aus, dass die Rigenser schon übersättigt seien von dem Kulturangebot im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres. Aber den meisten geht es wahrscheinlich wie mir. Hat man erst einmal ein Konzert besucht, will man noch mehr hören und sehen, denn die Chöre kommen aus der ganzen Welt, aus China, aus Südafrika, aus Südamerika, aus den USA, aus Deutschland, aus den Balkanländern. Und das Niveau ist hoch, sehr hoch.

Es sind ja nicht nur die großen Konzerte mit den Stars der Szene, sondern die sogenannten Freundschaftskonzerte, die in den Parks gegeben werden, oder die Auftritte der Chöre im Rahmen des Wettbewerbs in den unterschiedlichsten Kategorien, die vom gemischten Kammerchor über Folklore, zeitgenössische Chormusik (mit mindestens einer Uraufführung von jedem teilnehmenden Chors), Gospel bis hin zum Jazzchor reichen (es sind noch lange nicht alle Kategorien aufgezählt). Nicht zuletzt gibt es da ja noch Workshops bzw. Meisterklassen bei solchen Chormusik-Größen wie Kirby Shaw oder Morten Lauridsen.

Das größte Konzert mit 15 000 Sängern in der großen Estrade im Mežaparks (Kaiserwald) habe ich leider verpasst, aber ich kann mir gut vorstellen, welche "Energie" dort geherrscht haben muss - Singen steckt schließlich an, vor allem wenn gut gesungen wird. So zum Beispiel am Freitag Abend beim Wettbewerbs-Konzert im Saal der Stradiņs Universität, wo unter anderem ein chinesischer, ein saudi-arabischer Männerchor, ein kroatischer sowie ein bosnisch-herzegowinischer Chor um den Sieg in der Kategorie Folklore gesungen haben, Ausgang offen …

Für mich haben alle teilnehmenden Chöre gewonnen, aber die Juroren sehen das anders. Am Samstag werden die letzten Preise vergeben, bevor die 27 000 Sänger die Heimreise antreten. Auch die King's Singers werden spätestens dann aus Riga abreisen, nachdem sie die ganze Woche in Riga verbracht und in der Zeit zwei Konzerte gegeben und einen Workshop angeleitet haben. Deren Gesangskunst durfte ich ein Mal live erleben, und zwar bei einem der "Galakonzerte" im Laufe der Woche. Eigentlich ein zweites Mal in meinem Leben, denn ich kann mich dunkel daran erinnern, dass ich sie in meiner frühen Kindheit in Göttingen erlebt haben muss. Allerdings in einer beinah komplett anderen Besetzung, einzig der Sopran-Sänger (Countertenor?) gehört dem Aussehen nach noch der "Gründergeneration" der King's Singers an, alle anderen Sänger sind smarte junge Männer (und eben auch "very british"), die beim Publikum den einen oder anderen Jubelschrei ausgelöst haben.

Die King's Singers in Aktion
Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Nicht vergessen darf aber auch, dass im Rahmen des Konzerts auch noch der hervorragende lettische Chor "Ave Sol" sein Bestes gab. Den tiefsten Eindruck hinterlassen haben bei mir aber weder der Chor "Voices of Unity" aus den USA noch die lettische Band "Instrumenti" mit dem Chor "Sōla", sondern der niederländische Chor "Dekoor Close Harmony" mit einem famosen Auftritt zusammen mit einer kleinen Jazzband, bestehend aus Klavier, Gitarre und Schlagzeug. Das war eine überzeugende Kombination von Chor- und Jazzmusik, wie ich sie zuvor noch nie erlebt hatte.

 "Dekoor Close Harmony" aus Utrecht 
Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Die lettische Band "Instrumenti" mit dem lettischen  Chor "Sōla"
Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
 Man hat aber auch so seine Erlebnisse oder Bekanntschaften zwischen den Konzerten. Heute kam ich beispielsweise mit einer Ukrainerin ins Gespräch, die extra aus Dnipropetrowsk angereist war, um diese Chorolympiade zu erleben. Sie habe es satt, erzählt sie mir, solche Events am Fernseher oder im Nachhinein auf Youtube anzusehen, es sei ein viel größeres Erlebnis, direkt dabei zu sein. Direkt dabei sei sie auch bei den Ereignissen auf dem Maidan in Kiew gewesen, und am Freitag Nachmittag bei der kleinen Demonstration von etwa 200 Letten vor der Russischen Botschaft in Riga, wegen des mutmaßlichen Abschusses des Passagierflugzeugs bei Donezk. Putin sei derjenige, der daran schuld sei und endlich abgesetzt werden müsse, teilt sie mir entrüstet mit, und das als Russin, die in der Ukraine lebt. Nächstes Mal, 2016, sollen die World Choir Games übrigens in Sotschi stattfinden. Dann treffen weltweite Chorbegeisterung und russische Machtpolitik aufeinander. Wie das wohl wird, frage ich mich …
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Samstag, 12. Juli 2014

Domus Rigensis

Es war ein Schritt auf unbekanntes Terrain: Letztes Wochenende war ich (zumindest teilweise) auf den alljährlich Anfang Juli stattfindenden Kulturtagen von Domus Rigensis, dem lettisch-deutschbaltischen Kulturverein, der sich vor allem „für die Bewahrung und Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes der Stadt Riga, die Begegnung von Letten und Deutschbalten und für die Vermittlung von Kenntnissen zur baltischen Geschichte und Kultur einsetzt“ (Zitat Webseite Domus Rigensis).

Komischerweise hatte ich den Kontakt zur deutschsprachigen Kultur in Riga und Lettland in all den Jahren, in denen ich immer wieder vor Ort war, mehr oder weniger gemieden. Es schien mir wichtiger, die lettische Seite (und Seele) kennenzulernen. Aber das war natürlich ein Fehler. Denn der deutsche Einfluss auf die lettische Geschichte und Kultur ist natürlich nach wie vor immens, nach ungefähr sieben Jahrhunderten, in denen Deutsche zuerst als Eroberer ins Land kamen, dann als Machthaber blieben und später, als das Gebiet unter russischer Verwaltung stand, zumindest als wirtschaftliche und soziale Elite die lettische Bevölkerung dominierten.

Davon abgesehen, dass der Einfluss der Deutschen in Riga mit dem Zuzug der lettischen Landbevölkerung zwischen 1873 bis 1913 deutlich sank, ein großer Teil der Deutschbalten nach der Bodenreform 1920, als der deutschbaltische Großgrundbesitz enteignet wurde, das Land verließ, und die noch verbliebenen Deutschbalten 1939 im Zuge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts aufgefordert wurden, „Heim ins Reich“ zu kommen und Lettland zu verlassen und sich in Ostdeutschland oder in den neueroberten Gebieten Polens niederzulassen, so dass in Lettland Ende 1939 kaum noch Deutschbalten lebten, wirkt die lange Zeit, in der Deutschbalten vorwiegend in den Städten wohnten, Schlösser besaßen oder Gutsherren waren, immer noch nach.

Deutschbalten gibt es in Lettland also nur noch sehr wenige. Aber immerhin existieren in Lettland, Estland und Deutschland nicht wenige Organisationen, die an die Geschichte und die Kultur der Deutschbalten erinnern. Und nun nehme ich also, viel zu spät, endlich Kontakt zu „Domus Rigensis“, auf, dem wichtigsten Verein für lettisch-deutschbaltischen Kulturaustausch in Riga.

Herzstück ist ein kleines Büro im 300 Jahre alten Mentzendorffhaus, einem unter der Führung des Architekten Pēteris Blūms sorgfältig restaurierten Wohnhaus in der Altstadt von Riga, in dem heute auch das Museum für Städtische Wohnkultur untergebracht ist. Büroleiterin ist Nora Rutka, die mich bei meinem ersten Besuch kurz vor Beginn der Kulturtage so freundlich begrüßte, dass ich mich irgendwie ärgerte, nicht schon früher hierher gekommen zu sein. 

Die Veranstaltungen der Domus-Rigensis-Kulturtage fanden dieses Jahr aber vor allem im Haberlandsaal des Rigaer Stadt- und Schifffahrtsmuseums statt. Neben der obligatorischen Mitgliederversammlung gab es am ersten Abend auch Vorträge von Prof.
Erwin Oberländer aus Bonn mit dem Titel „Rigas Aufstieg zur europäischen Wirtschaftsmetropole und zur multikulturellen Vielvölkerstadt zwischen 1860 und 1914“ sowie von dem Dramaturgen Mikus Čeže aus Riga mit dem Titel „Die Bedeutung von Geld und Macht beim Wandel vom Deutschen Stadttheater zur Lettischen Nationaloper“ zu hören.

Vortrag von Prof. Erwin Oberländer

Vortrag von Mikus Čeže

Am zweiten Tag fand im gleichen Saal ein Konzert der Sopranistin Martina Doehring und des Pianisten und Komponisten Aivars Kalejs statt (inklusive der multi-medial präsentierten Ausstellung „Baltness–wo sich Mensch und Meer begegnen“, einer „vergnüglichen Hommage an Lettland“), bevor am Nachmittag eine Führung durch die Lettische Nationaloper unternommen (Leitung: von Mikus Čeže) und es am Abend auf dem Schiff „Vecriga“ im Rahmen eines „Baltischen Abends“ Gelegenheit zum „geselligen Beisammensein“ gab. Am letzten Tag fand abschließend noch ein gemeinsamer Ausflug nach Goldingen/Kuldiga statt.

Nein, ich war nicht auf allen Veranstaltungen, aber ich habe dennoch sehr interessante Persönlichkeiten kennengelernt, wie etwa die deutschbaltische Historikerin und Journalistin Anita Kugler, Verfasserin des Buches "Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier", der unglaublichen Geschichte von Fritz Scherwitz/Eleke Serewitz, der von einem deutschen Gericht zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, weil er „drei jüdische Häftlinge seines Lagers erschossen haben soll. Strafverschärfend wurde ihm angelastet, dass er moralisch besonders verwerflich gehandelt habe, weil er als Jude eigene "Rassegenossen" getötet haben soll.“ (Zitat aus Spiegel Online-Interview mit Anita Kugler, 2004). Als ob es weniger schlimm wäre, wenn Christen Juden töten würden...
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Sonntag, 6. Juli 2014

Mein Panoramablick

Das Haus, in dem ich wohne, wurde in den 1980er Jahren erbaut, also noch zu Zeiten, als Lettland eine Sowjetrepublik war. Seine Eckfenster erlauben einen Ausblick in drei Richtungen, und da ich im 7. Stock wohne, habe ich eine ganz besonders gute Aussicht auf das Stadtzentrum.

Zentrum mit Radisson blu Hotel Latvija, Petrikirche, Nationalbibliothek, Dom und Jakobikirche (v. l. n. r.)

Wantenbrücke (Vanšu tilts) und einige Hochhäuser (Hauptgebäude der Swedbank und Ministerium für Landwirtschaft, Bildmitte). Rechts sieht man das Hauptgebäude der Rietumu Bank

Flusshalbinsel Andrejsala mit ehemaligem Heizkraftwerk

Hafen

Neubauprojekte

Wohnhäuser aus Sowjetzeiten

Fernsehturm auf Flussinsel Zaķusala
 
Orthodoxe Dreifaltigkeitskirche in Petersburger Vorstadt




Innenhof


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Dienstag, 1. Juli 2014

Tanzen, bis die Sonne aufgeht


Schon lange hatte ich vor, endlich einmal die Mitsommernacht in Lettland zu feiern. Bisher war ich nämlich immer nur im Spätsommer vor Ort, niemals aber Ende Juni, wenn in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni im ganzen Land kleine oder größere Feuerchen angezündet werden und die ganze Nacht gesungen und getanzt wird, bis die Sonne aufgeht und die Tage wieder kürzer werden.

Es ist noch hell, als ich in Dzegužkalns ankomme, einem kleinen Park in Pardaugava, dem Stadtgebiet links der Daugava (Düna). Hier soll eines der schönsten Līgo-Feste in Riga stattfinden, hat man mir gesagt, nicht so bombastisch wie die „offizielle“ Līgo-Feier am Ufer der Daugava vor den Toren der Altstadt. Zehntausende sollen dorthin kommen, um bekannte Schlagerstars zu hören und ein riesiges Feuer abbrennen zu sehen.

Hier in Dzegužkalns scheint es dagegen weitaus ruhiger zuzugehen, in diesem Park, in dem sich der höchste Hügel Rigas erhebt, und von dem aus man eine schöne Aussicht auf den Hafen, die Wantenbrücke (Vanšu tilts) mit ihren unzähligen Drahtseilen und das dahinterliegende Stadtzentrum hat. Überhaupt erwarte ich nicht wirklich viel, schließlich sagte mir jeder, den ich nach einem passenden Ort für ein Līgo-Fest befragte, dass es auf dem Land ohne Zweifel am schönsten sei, am besten natürlich unter Freunden und Bekannten. Die Veranstaltungen in der Stadt seien sozusagen nur ein Trostpflaster für diejenigen, die keine Möglichkeit hätten, auf dem Land zu feiern.

Und so bin ich auch nicht wirklich überrascht, als mir zuerst nur ein paar betrunkene Gestalten begegnen, ich an etlichen Getränke- und Imbissständen vorbeikomme, und ich außer einem gerade erst angezündeten Feuerchen nichts Außergewöhnliches entdecken kann. Doch dann höre ich leise Musik, die schnell lauter wird, je näher ich komme, und unüberhörbar eine der im Vorfeld angekündigten bekannten lettischen Folkloregruppen sein muss. Vielleicht, ja, hoffentlich ist es die Postfolkloregruppe "Iļģi", die man auch außerhalb der Grenzen Lettlands auf Weltmusikfestivals antreffen kann. Dann erblicke ich im unteren Teil des Parks die überraschend große Estrade, wo hunderte Zuschauer enthusiastisch zur schwungvollen Darbietung der Folkloregrupe „Rīgas Danču klubs“ tanzen. Schade, "Iļģi" hätte ich gerne erlebt, aber da habe ich mich wohl zu spät auf den Weg gemacht.

Eichenlaubkränze sieht man auf beinahe jedem zweiten Herrenkopf, mindestens ebenso viele Blumenkränze auf den Häuptern der Damen. Lettische Trachten, wie man sie auf den Titelseiten der Werbeprospekte zahlreicher Tourismusagenturen findet, fallen mir hier weit weniger auf als ich erwartet hätte.

 
Oberhalb der Estrade sitzen die ruhigeren Menschen, die das Geschehen eher aus der Ferne genießen möchten. Einige von ihnen haben sich Proviant von zu Hause mitgenommen, den sie nun stillschweigend und genüsslich verzehren. Zwischen ihnen toben ausgelassen Kinder, die sich auf der grünen Wiese immer wieder bergab rollen, bis sie von ihren Eltern, die sich um die Gesundheit ihrer Liebsten sorgen, da das Gras nun recht feucht und die Luft ziemlich kühl geworden ist, wieder „eingesammelt“ werden. Überhaupt regnet es zwischendurch immer wieder ein bisschen, wie schon zuvor den ganzen Juni über. Das Wetter ist dieses Jahr bislang nicht wirklich normal, scheint es, denn gewöhnlich ist der Juni der trockenste Sommermonat in Lettland.

Ganz oben auf dem „Gipfel“ des Hügels spazieren die Pärchen oder Familien und genießen die Aussicht auf die Stadt, und rund um die drei Feuer, die ich im Areal des Parks nun mittlerweile erblicken kann, und die, wie mir sofort auffällt, sehr gekonnt und geschickt geschichtet sind, damit sie nicht so schnell abbrennen, stehen die Leute und lassen sich von den Flammen wärmen. Und da höre ich plötzlich, das überall um mich herum nicht nur Lettisch, sondern auch Russisch gesprochen wird. Aha. Also feiern sie doch miteinander, die Letten und die Russen. Ich bin begeistert. Gerne will ich zugeben, dass ich mich geirrt habe in einem meiner letzten Posts. Und sie feiern sogar gemeinsam das typischste der lettischen Feste! Einziger Unterschied ist, und das kann man sich vermutlich denken, dass ich keinen Russen oder keine Russin entdecken kann, der oder die eine lettische Tracht oder irgendeinen Kranz auf dem Kopf trägt. Aber wer weiß – ich habe es wahrscheinlich nur nicht gesehen... Auffallend ist in dem Zusammenhang aber auch, dass sich die Russen in deutlich höherer Dichte beim Feuer aufhalten als bei der Bühne, wo die lettische Folkloremusik gespielt wird. Aber immerhin.

In der Estrade lösen sich nun die Gruppen ab, die Bühne wird umgebaut. Auf der Vorbühne wird gleichzeitig der Beginn der Johannisnacht in Form von gemeinsamem Singen und Tanzen zelebriert, auch ich versuche, ein bisschen verschämt, einige zaghafte Schritte. Dann ist das Prozedere auch schon bald wieder vorbei und die neue Band beginnt mit ihrer Musik. Derweil verlassen vor allem einige Familien mit Kindern das Gelände und gehen nach Hause. Andere verstreuen sich ein wenig im Park oder stärken sich an den Imbissständen. Das ist wohl die Zeit, wenn, so ist zumindest der Brauch, auf den Festen auf dem Land die magische Farnblüte gesucht wird, die sich angeblich nur in der Mitsommernacht öffnet. Dass diese gerne auch zu zweit gesucht wird und die jungen Pärchen für einige Zeit im Wald verschwinden, gehört natürlich dazu. Hier im Stadtpark ist das ein bisschen schwieriger. Worauf ich ja noch hoffe, ist das Überspringen des Feuers, ebenfalls ein typisches Ritual. Anschauen würde ich mir das gerne, mitmachen wohl eher nicht. Gerne würde ich erfahren, ob da die Russen mitmachen? Vorstellen könnte ich es mir. 


Trotzdem überkommt mich Müdigkeit, träge setze ich mich auf eine der Treppenstufen, die auf den Hügel hinaufführen. Nach Hause gehen, mich schlafen legen, das würde ich jetzt eigentlich ganz gerne tun. Aber das geht doch nicht, denke ich, dann bist du den ganzen Sommer über schläfrig! So zumindest besagt es der Volksglaube. Alles soll dann nämlich schief gehen, nichts soll funktionieren, wenn man nicht mindestens bis zum Sonnenaufgang wach bleibt. Ich rappele mich also wieder auf und geselle mich zu den Menschen am Feuer. Langsam brennt es ab, ab und zu singen ein paar Leute Līgo-Lieder. Aber so lange ich warte, keiner macht Anstalten, über das Feuer zu springen, und ehrlich gesagt, es ist ja auch noch viel zu groß.

Ein bisschen überrascht mich aber schon, dass nun immer mehr Menschen den Park verlassen und nach Hause zu gehen scheinen. Es ist wohl so, dass nur ein kleiner Teil bis zum Morgengrauen aushält, obwohl der Sonnenaufgang im lettischen Sommer ungefähr um fünf Uhr vonstattengeht, also relativ früh. Auch ich mache mich auf den Weg. Und habe Glück. Denn noch bevor ich bei meiner Wohnung ankomme, ist die Sonne aufgegangen! Nun kann, nach lettischem Brauch, bei mir ja nichts mehr schiefgehen, denke ich, schließlich ich bin ja lange genug wachgeblieben... Und auf dem Weg zurück habe ich auf den Straßen von Riga vermutlich die Lieder gehört, die man nun wohl auch auf der höchsten Stelle im Dzegužkalns-Park singt. Denn das Wort "saullēkts" (Sonnenaufgang) hörte ich immer wieder aus den mir sonst überwiegend unverständlichen Liedtexten heraus. Erschöpft lege ich mich schlafen und hoffe, dass sich meine Mühe gelohnt hat und in diesem Sommer nichts mehr schiefgeht...

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