Montag, 29. September 2014

Baiba Giptere und das Hinterhof-Projekt in der Moskauer Vorstadt

Aus der Lesung im Rahmen der Abschlussveranstaltung als Stadtschreiber am 23. September 2014 im Goethe-Institut Riga

Auf einer Bank sitzen ein paar Rentner und plaudern angeregt. Nebenan turnen Kinder ausgelassen an den neuen Spielgeräten. Vögel zwitschern, ein Auto parkt, von weitem hört man eine Straßenbahn vorbeifahren. Eine ältere Dame mit Plastiktüte in der Hand betrachtet geradezu fürsorglich einige Kürbisse, die bereits so groß wie Basketbälle sind. Das Geräusch eines Rasenmähers vermittelt den Eindruck von ländlicher Betriebsamkeit. Doch der Ort, an dem sich diese scheinbar alltägliche Szene abspielt, ist ein ungewöhnlicher Hinterhof in Riga, genauer gesagt in der Moskauer Vorstadt, einem Stadtviertel, das überwiegend aus ziemlich heruntergekommenen Holzhäusern und sowjetischen Plattenbauten besteht, und in dem fast nur Russen wohnen.

„Baiba!“ ruft die Frau mit Plastiktüte auf Russisch. „Willst Du noch eine Tüte mit Äpfeln haben?“ „Ja, gerne, danke! Ich komme gleich!“ ruft eine Stimme aus dem Hausflur zurück. Kurze Zeit später erscheint eine Frau um die fünfzig, akkurat gekleidet, blondiertes schulterlanges Haar. Hinter ihr ein Mann mit Fotoapparat und Aufnahmegerät, ein Journalist aus Deutschland, dem sie gerade den Projektraum gezeigt hat. Er verabschiedet sich höflich, dann geht Baiba zu der Frau bei den Kürbissen und nimmt die Plastiktüte mit den Äpfeln entgegen.

Medienvertreter aus aller Welt wurden in diesem Hinterhof schon oft gesehen, seitdem die Nachbarn nicht mehr den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen, jeder für sich allein, und vor allem, seitdem der verwahrloste Bereich zwischen den fünfstöckigen Mehrfamilienhäusern aus weißem Backstein nicht mehr Treffpunkt von Alkoholikern, Drogenabhängigen und Müllsammlern ist. Baiba war zwar nicht die Erste, die sich über den schlechten Zustand des Hofs aufregte, dafür war sie aber bereit, sich dafür einzusetzen, ihn umzugestalten. Sie wollte einfach nicht mehr zulassen, dass ihre jüngster Sohn in einem mit leeren Flaschen und Zigarettenkippen verschmutzten Sandkasten spielen musste.

So gründete sie mit einigen Nachbarn den Verein für die Entwicklung der Latgaler Vorstadt (Asociācija Latgales priekšpilsētas attīstībai), zu der auch die Moskauer Vorstadt gehört. Und als bekannt wurde, dass sowohl die Stadt Riga als auch die Stiftung Riga 2014 Gelder für die besten Konzepte für die Verschönerung der Hinterhöfe bereitstellen würden, erarbeitete die kleine Gruppe um Baiba ein erfolgreiches Konzept, mit dem sie jeweils den Zuschlag erhielt. Spätestens von dem Moment an, als Gärtner und Architekten kamen und konkrete Pläne für die Umgestaltung vorlegten, waren auch die meisten bisher eher skeptischen Nachbarn bereit mitzumachen. In gemeinsamen Aktionen wurde der Innenhof nun in gemeinschaftlicher Arbeit umgebaut. Und nicht nur das. In der Folge organisierte der Verein Hoffeste, Sommer-Sport, Ausflüge, Kochkurse und Bastelwerkstätten, die zum Teil draußen im Hof und teilweise in dem oberflächlich renovierten Projektraum im Kellergeschoss veranstaltet wurden, den der Verein angemietet hatte.


Was nun folgte, war im positiven Sinne absehbar: Die Nachbarn aus der Umgebung kamen und interessierten sich, und so dauerte es nicht lange, bis Baiba den nächsten Antrag schrieb. Mittlerweile sind es drei Hinterhöfe, die umgestaltet wurden, und ein Ende ist noch nicht in Sicht. „Die Menschen hier haben verstanden, dass sie Dinge verändern können, wenn Sie gemeinsam handeln. Und dass es wichtig ist, wenn einer den Anfang macht.“ erzählt Baiba immer wieder den Besuchern, die sich ein eigenes Bild machen möchten. Dabei ist ihr aber auch klar, dass die Umgestaltung niemals ohne öffentliche Fördermittel und private Spenden funktioniert hätte. Auf die immer wiederkehrende Frage, warum sie hier als Lettin zwischen so vielen Russen wohne, antwortet sie gelassen, dass Sie schon seit zwanzig Jahren hier lebe, und dass sehr gerne. „Ich denke beinahe schon auf Russisch“ fügt sie lachend hinzu. „Die Russen sind offener als die Letten, mit ihnen ist es einfacher, etwas zu unternehmen. Die Letten sitzen lieber zu Hause“.

Illusionen über das Leben in Riga macht sich die gelernte Schneiderin trotz aller Bemühungen aber nicht. Dass ihre älteste Tochter beabsichtigt, nach New York zu fliegen, um sich dort um einen Studienplatz zu bewerben, unterstützt sie ohne Wenn und Aber. „Welche Perspektive hat sie schon hier in Riga?“ Dass es keine Kontinuität gäbe, bemängelt sie. So ginge es auch ihren Nachbarn, von denen meisten nur an heute und morgen denken würden. Was danach käme, sei ohnehin nicht planbar, zumindest nicht in diesem Land.

Angst vor Putin und seiner aggressiven Außenpolitik habe sie aber nicht. Und dass es unter den Russen einige Befürworter Putins gäbe, stört sie nicht. Niemals würde er es wagen, Lettland oder auch nur Teile Lettlands zu okkupieren, da sei sie felsenfest von überzeugt. Und die lettischen Russen würden es auch gar nicht wollen, gibt sie zu bedenken. Die wüssten genau, dass es ihnen hier besser geht als den meisten Menschen in Russland.

Baiba Giptere macht es wohl richtig. Ohne sich allzu große Illusionen zu machen, setzt sie sich für die Verbesserung des Zusammenlebens der Menschen ein. Es ist erstaunlich, dass die Verschönerung eines Hinterhofs die Aufmerksamkeit der internationalen Presse erregt. Eigeninitiative und nachbarschaftliche Projekte scheinen in Lettland immer noch etwas Besonderes zu sein.
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Sonntag, 28. September 2014

Stadtschreiber im Ostseemagazin auf Radio NDR 1 Welle Nord

Stadtschreiber im Ostseemagazin auf Radio NDR 1 Welle Nord

Am 25. September veröffentlichte der Radiosender NDR 1 Welle Nord im Ostseemagazin einen Beitrag der Journalistin Birgit Johannsmeier über mich als Stadtschreiber.

Hier kann man mal reinhören
ab Min. 13:50, mit freundlicher Genehmigung von "NDR 1 Welle Nord Ostseemagazin"
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Samstag, 27. September 2014

Abschied und Rückkehr

Meine Zeit als Stadtschreiber von Riga geht dem Ende entgegen. In ein paar Tagen werde ich meine Sachen zusammenpacken und zurück nach Deutschland fliegen. Aber ich komme wieder, sogar sehr bald, denn im Oktober und November habe ich als Autor von Reiseführern in Riga, Lettland, dem Baltikum und auch in St. Petersburg zu tun.

Die Abschlussveranstaltung im Goethe-Institut am vergangenen Dienstag mit Lesung und anschließendem Gespräch mit Anna Muhka von der Stiftung Riga 2014 und Jonas Büchel vom Urban Institute Riga war aus meiner Sicht erstaunlich gut besucht. Für mich war es eine ganz neue Erfahrung, eigene Texte vor einem Publikum zu lesen. Besonders gespannt war ich auf die Reaktion der Zuhörer auf die Kurzportraits von Menschen, die in Riga leben. Es hat mich gefreut, einige positive Rückmeldungen erhalten zu haben. Ich würde das "Projekt" nämlich gerne fortsetzen, und vielleicht habe ich ja bis zum kommenden Sommer genug Texte beisammen, dass man daraus eine kleine Publikation machen kann. Vor allem Riga-Besuchern könnten die Portraits einen tieferen Einblick in das Alltagsleben in Riga vermitteln.

Ein kleines Missverständnis möchte ich an dieser Stelle kommentieren. Eine Zuhörerin verstand mich während des Podiumsgesprächs wohl falsch. Sie warf mir hinterher vor, dass ich angefangen hätte, Russisch zu lernen, als ich in diesem Sommer nach Riga kam. Wäre es tatsächlich so gewesen, hätte ich ihre Reaktion verstanden. Doch in Wahrheit lernte ich bereits während meines ersten Riga-Aufenthalts 1999 Russisch, und zwar aus familiären Gründen. Später begann ich dann damit, Lettisch zu lernen, was zugegebenermaßen nur sehr langsam vonstatten ging. Während meines Aufenthalts in diesem Sommer nahm ich Lettisch- und nicht Russisch-Unterricht.

Riga, diese schöne Stadt an der Mündung der Daugava in die Ostsee, ist mir wieder einmal ein großes Stück näher gekommen, oder ich ihr. Mit dem sicheren Gefühl, die Stadt eigentlich schon recht gut zu kennen, kam ich Ende Mai an, und musste bereits im Juni feststellen, dass ich eigentlich immer noch ein Fremder, ein Außenstehender bin. Doch durch die Vielzahl an interessanten Menschen, die ich in dieser Zeit kennenlernen durfte, aber auch durch neue Orte, die ich in diesem Sommer erstmals besuchte, fühle ich mich in Riga so wohl wie niemals zuvor. Es fiele mir sehr schwer, von dieser Stadt Abschied zu nehmen, wüsste ich nicht, dass ich auch in Zukunft häufig da sein werde.

Foto: Mārtiņš Otto, Rīga 2014

Ein würdiger Abschluss war da das Gemeinschaftskonzert des Kammerorchesters Sinfonietta Riga und des Berliner Andromeda Mega Express Orchestra im Konzertsaal "Riga" der Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Jānis Liepiņš am vergangenen Freitag (26. September). Die Veranstaltung wurde übrigens vom Goethe-Institut Riga initiiert und gefördert, das speziell für dieses "Großorchester" einen Komponistenauftrag an den Komponisten Daniel Glatzel vergeben hatte. Das Ergebnis war eine spektakuläre Mischung aus Klassik-, Jazz-, BigBand-, Filmmusik-, Freejazz, Elektronikmusik- und Avantgardemusikelementen. Eine spannendes Ereigniss, dass nach Wiederholung ruft.

Nicht wiederholt wird aller Voraussicht nach die Position des Stadtschreibers in Riga. Schade. Aber ganz sicher wird es in Zukunft andere Möglichkeiten geben, den kulturellen Austausch zwischen Lettland und Deutschland zu fördern. Der ist nämlich wichtig für beide Seiten, gerade jetzt, in Zeiten der Ukraine-Krise.

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Dienstag, 16. September 2014

Abschlussveranstaltung als Stadtschreiber

Am 23. September findet meine Abschlussveranstaltung als Stadtschreiber im Goethe-Institut Riga statt. Ich hoffe natürlich, dass möglichst viele Zuschauer erscheinen, denn es wird nach der Lesung auch noch eine Diskussionsrunde mit Anna Muhka von der Stiftung Riga 2014 und Jonas Büchel vom Urban Institute Riga geben. Weitere Infos dazu gibt es auf der Webseite des Goethe-Instituts.
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Lyrik im herbstlichen Riga


Der Herbst setzt langsam ein in Riga, die Blätter der Birken werden gelb, die Luft wird feuchter. Jacken werden aus den Schränken geholt, die ersten Nebelschwaden ziehen morgens auf. Nachmittags übernimmt dann die Sonne wieder die Führung, sendet zärtliche Lichtstrahlen, bevor die Nacht bereits um Acht hereinbricht...

Die fünfte Jahreszeit ist auch eine Zeit der Poesie (wobei ich nicht behaupten will, dass die Zeilen weiter oben Poesie sind), zumindest hier in Riga, wo im September wie in den vergangenen Jahren die Poesietage stattfinden, in Gedenken an Lettlands Nationaldichter Rainis (offfiziell: Jānis Pliekšāns), der Goethes Faust ins Lettische übersetzt und die Lettische Sprache (nicht nur dadurch, aber auch) um einen großen Sprung nach vorne gebracht hat. Und weil dieses Jahr Riga eine der beiden europäischen Kulturhauptstädte ist (neben Umeå in Schweden), dauert das Festival dieses Mal länger als sonst, nämlich fast drei Wochen. Darüber hinaus finden die Lesungen, Konzerte, Buchvorstellungen teilweise an neuen Orten statt, zum Beispiel in der kürzlich erst eröffneten Nationalbibliothek. Es kamen und kommen auch ausländische Autoren zu Wort, auch aus Deutschland, z. B. Eberhard Häfner, Alexander Filyuta und Tom Schultz. Nicht zuletzt kommen auch russische Autoren, die in Riga bzw. Lettland leben, zu Wort.

Spannend war das Projekt „Poetry Map of Riga“, das im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms präsentiert wurde. Es ging darum, auf künstlerische Art und Weise (also in Form von allen möglichen Genres – sei es Musik, Videos, Installationen und Performances, oder aber auch interaktive Software oder Computer-Grafiken) eine ungewöhnliche Karte von Riga anzufertigen, auf der die Vielfalt der „urbanen Phänomene“ in der Stadt dargestellt werden sollten: in den Straßen, den Nachbarschaften, Häusern, Cafés, auf Kreuzungen, in Hinterhöfen, und so weiter. Die Ergebnisse wurden in mehreren Ausstellungen gezeigt, zuletzt in der ehemaligen Tabakfabrik, wo im Sommer auch die Selbstportraits des „RIGA SELF/PORTRAITS“-Projekts gezeigt wurden.

Ich muss gestehen: Es ist gerade so viel los in Riga, dass ich an noch nicht einmal der Hälfte der Veranstaltungen, die ich gerne besuchen würde, teilnehmen kann. Das geht eigentlich schon die ganze Zeit so. Nebenbei gibt es ja auch noch andere Aufgaben, zum Beispiel die Arbeit an meinem Buch, meinem Projekt, etwa 25 bis 40 (Kurz-) Portraits über Menschen in Riga zu schreiben, vor allem Menschen, die etwas Bestimmtes erreichen möchten, Menschen, die engagiert sind. Eine Aufgabe, die größer ist, als ich es erwartet habe, viel schwieriger, da man so viel falsch machen kann, wenn man über Schicksale schreibt, über Menschen, die so vieles Persönliches von sich preisgeben, wenn man mit ihnen spricht...

Meine Zeit als Stadtschreiber geht in zwei Wochen zuende. Schade eigentlich, sehr schade, denn es gäbe noch so viel zu erzählen. Die Stadt, von der ich meinte, sie bereits sehr gut zu kennen, hat mich überrascht. Sie hat mir mehrere „Geheimnisse“ verraten, aber nur so viele, dass sie mich neugierig gemacht hat, neugieriger als je zuvor. Zum Glück wird mich mein „Projekt“ noch oft nach Riga bringen, mindestens bis zum nächsten Sommer, das habe ich mir fest vorgenommen. Ich bin sehr gespannt auf die Entwicklung der Menschen, auf deren Hoffnungen, vielleicht aber auch Enttäuschungen. Auf ihr Schicksal und wie sie damit umgehen, auf ihren Mut und auf ihre Ängste.
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Freitag, 12. September 2014

Anleitung zum Busfahren für Deutsche in Riga

Ist es Toleranz? Ist es Ignoranz? Gleichgültigkeit? Furcht? Ein junger Mann im Jogginganzug steht in einem Trolleybus (Oberleitungsbus) und spielt auf seinem Smartphone ein Online-Automatenspiel. Den dazugehörigen Sound hat er nicht abgeschaltet, im Gegenteil, die nervtötende "Begleitmusik" erschallt im gesamten hinteren Busabteil. Denke ich an Deutschland (am Tag), würde ich darauf tippen, dass es nicht lange dauern würde, bis sich jemand lautstark darüber beschwert. Obwohl ich mich eigentlich als eher tolerant und geduldig einschätze, bin ich versucht, den Mann zu bitten, das Gerät ein bisschen leiser zu stellen. Doch als Ausländer mit deutlich hörbarem Akzent beziehungsweise eingeschränkten Sprachkenntnissen halte ich mich dann doch lieber zurück. Zumal der Mann nicht unbedingt kooperativ aussieht.

Schon einen Tag zuvor hatte ich mich über drei Russen aufgeregt, die auf dem Hof einer Grundschule nicht nur an den Turngeräten Kraftübungen machten (das geht ja noch), sondern ihren Flüssigkeitshaushalt am nächstbesten Gebüsch regelten - während der Unterrichtszeit. Da ertappte ich in mir eine sehr deutsche Seite. Meine emotional leicht aufgeladene Belehrung gegenüber diesen drei glattrasierten Sportskanonen, dass dies ein Schulhof und keine öffentliche Toilette sei, hätte ich wahrscheinlich mit ein paar Veilchen bezahlt, wäre ich nicht in Begleitung einiger russischer Einheimischer gewesen. Doch zurück zum spielfreudigen Handybesitzer im Jogginganzug: Da ich mich zurückhielt, hoffte ich auf eine Reaktion der anderen Mitfahrer. Doch nichts dergleichen. Außer einigen irritierten oder auch leicht verwunderten Blicken konnte ich keinen Impuls ausmachen, der zu einer Beschwerde geführt hätte. Letztendlich sagte keiner was, obwohl es alle störte.

Bus beim Hauptbahnhof
Busfahren ist überhaupt sehr aufschlussreich in Lettland, in jeder Hinsicht. Fährt man beispielsweise die Strecke des Busses Nr. 3 ab, lernt man nicht nur Pļavnieki kennen, eine überwiegend von Russen bewohnte Plattenbauvorstadt, sondern auch den ehemaligen Arbeiter-Stadtteil Grīziņkalns mit seinen meist unrenovierten Holzhäusern aus dem 19. Jahrhundert. Dann durchquert man das geschäftige Zentrum auf der Brīvības iela (Freiheitsstraße), umfährt die touristische Altstadt, überquert die Daugava (Düna), fährt durch Āgenskalns (Hagensberg), dem größtenteils eher ruhigen und grünen Stadtteil am anderen Flussufer, in dem einst zahlreiche Deutschbalten ihre Sommerhäuser hatten und wo nun vor allem Letten leben, bis man nach gut einer Stunde Fahrtzeit in Bolderāja ankommt, einer aus sowjetischen Wohnblöcken bestehenden Vorstadt, in der - wie in Pļavnieki - vor allem Russen leben, und wo übrigens 1837 Richard Wagner erstmals lettischen Boden betrat, als er mit 24 Jahren auf einem Handelsschiff aus Königsberg kommend Bekanntschaft mit russischen Grenzbeamten machte. Dass er die Stadt bereits nach zwei Jahren wieder fluchtartig verlassen würde (natürlich hochverschuldet), ahnte er damals wohl noch nicht.

In Riga wurden übrigens in den letzten 10 Jahren aufgrund der Erneuerung der Busflotte enorm viele Arbeitskräfte gestrichen. Während es früher noch in jedem einzelnen Bus eine Fahrkartenverkäuferin gab, geht es heute moderner zu als beispielsweise in Berlin. Nun muss man seine vorher erworbene Fahrkarte mit Chip an eine elektronischen Ticketkontrolle halten. Nur ab und zu finden Fahrkartenkontrolleure den Weg in den Bus, aber dann nicht selten zu viert oder zu sechst. Schwarzfahren kostet in Riga übrigens 5 Euro - für viele Letten/Russen ist das bereits eine schmerzhafte Geldstrafe. Auffallend ist ein Video, das diesbezüglich in vielen Bussen hinter der Fahrerkabine zu sehen ist. Dort wird nämlich vorgeführt, wie sich ein guter lettischer Bürger verhalten soll. Erkennt er einen Störer (z. B. das Spielen von zu lauter Musik) oder jemanden, der sein Ticket nicht entwertet hat, soll er direkt die Nummer der Polizei wählen. Die kümmert sich dann um die verdächtigte Person, die ohne weitere Befragung von Polizisten mit schusssicherer Weste aus dem Bus geführt wird. Schon wieder kommen mir beim Betrachten dieses kurzen Films Gefühle hoch, die die hiesigen Bürger scheinbar nicht teilen: "Das ist doch eine Aufforderung zur Denunziation", denkt da die politisch korrekte Seele.
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Mittwoch, 10. September 2014

Stender und die Letten

Ende vergangener Woche fand in Riga und Mitau (Jelgava) eine wissenschaftliche Tagung mit dem Titel „ Gotthard Friedrich Stender (1714-1796) und die Aufklärung im Baltikum im europäischen Kontext“ statt. Anlass war der dreihundertste Geburtstag des kurländischen lutherischen Pastors, der sich vor allem einen Namen als Begründer der lettischen säkularen Literatur gemacht hat. Bereits das umfangreiche Programm der Tagung, die unter anderem im Hauptgebäude der Lettischen Universität abgehalten wurde, aber auch die zahlreichen Zuhörer, die zu den Vorträgen erschienen, machten deutlich, welche Bedeutung Stender nach wie vor in Lettland hat.

Friedrich Gotthard Stender, von Unbekannt, via Wikimedia Commons
Wie zahlreiche andere evangelische Pfarrer setzte er sich sehr für die Bildung der lettischen Landbevölkerung ein. Doch „der alte Stender“, wie er früher auch genannt wurde, ging weiter und verfasste nicht nur die erste umfassende Lettische Grammatik sowie ein Lexikon der lettischen Sprache, sondern widmete, vor allem in seinen letzten 30 Lebensjahren, einen Großteil seiner Zeit der Aufklärung des Lettischen Volks, in dem er, als Erster überhaupt, säkulare Literatur ins Lettische übersetzte. Bedeutung erlangten unter anderem die Übersetzung des Fabelbuchs von Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), wobei er allerdings die Prosaform wählte und darüber hinaus jeder Fabel eine Moral hinzufügte. Dass er jene Fabeln ausließ, in denen es um soziale Unterschiede oder um die antike Mythologie geht, weist daraufhin, dass Stender mit seiner Übersetzung höchstwahrscheinlich didaktische Ziele verfolgte.

Dies erläuterte Ruth Florack von der Universität Göttingen in ihrem gut zwanzigminütigen Vortrag über „Gellerts moralische Lehren – ein deutsch-lettischer Kulturimport“, einer von über vierzig Vorträgen, die in dem dreitägigen Programms stattfanden. Ein Teil der Tagung wurde im knapp eine Stunde von Riga entfernten Mitau (Jelgava) abgehalten, dem Ort, an dem Stender zwischen 1742 und 1744 als Konrektor an der Stadtschule arbeitete, bevor er für acht Jahre Pastor in Birsgallen (Birzgales pagasts) in der Nähe von Riga wurde. Stender war ein umtriebiger Mensch, der nicht nur häufig den Wohnort und die Stelle wechselte - er lebte unter anderem auch in Jena, Halle, Helmstedt, Braunschweig, Hamburg und auch Kopenhagen, wo er Professor der Geografie wurde, um nach nur zwei Jahren nach Kurland zurückzukehren.

Denkmal von Friedrich Gotthard Stender in Eglaine, von anakes, via Wikimedia Commons
Recht unbekannt ist die Tatsache, dass Stender auch mehrere Globusse angefertigt hat (für den Herzog von Braunschweig und König Friedrich V. von Dänemark und Norwegen). Über die aufwendige Restaurierung berichtete Henrik Dupont aus Kopenhagen. Scheinbar war Stender so etwas wie ein „Leonardo da Vinci des Nordens“, denn er gilt auch als Erfinder einer der ersten Waschmaschinen und interessierte sich überaus für Astronomie. Quasi ein Allroundgenie, dass seine letzten Jahre als Pastor abgeschieden in der lettischen Provinz Sonnaxt (Sunākste) verlebte, wo er eines seiner bedeutendsten Werke verfasste, das “Buch der hohen Weisheiten über Welt und Natur“, das ebenfalls auf Lettisch erschienen ist.

Stender hat den Letten enorm viel weitergeholfen auf dem Weg zu ihrem eigenen Nationalgefühl, zu ihrer eigenen Kultur. Auch Krišjānis Valdemārs (1825-1891), der lettische Journalist und Förderer der Seefahrt, der sich als einer der ersten Bürger öffentlich als Lette bezeichnete (was damals, vor allem als gebildeter Mensch, undenkbar war), und sich als Mitbegründer der Bewegung der Jungletten einen Namen machte, bezog sich in seinen didaktischen Schriften auf Gotthard Friedrich Stender. Und der war sich seiner Bedeutung vermutlich bewusst, als er veranlasste, dass auf seinem Grabstein „Hier ruht G. F. Stender der Lette“ eingraviert wurde. Ein ermutigendes Statement, das ihm die Letten bis heute nicht vergessen haben. Kaum verwunderlich ist da, dass zeitgleich zur wissenschaftlichen Tagung in der neuen Lettischen Nationalbibliothek eine Ausstellung über den „Letten“ und seine Zeit mit dem Titel ”Lette. Zeugnisse des Lebens, der Gedanken und des Werks” eröffnet wurde.
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Freitag, 5. September 2014

Russische Schule

Dass die Russen anders feiern als die Deutschen, dürfte ja weithin bekannt sein. Ja, sie sind ausgelassener, und dass vermutlich jeder zweite Mann nicht nur recht gut Gitarre spielen, sondern dazu auch noch Lieder von Vladimir Vysocki, dem legendären Moskauer Schauspieler und Liedermacher, singen kann, ist kein Klischee. Auch, was die Ausdauer beim Feiern betrifft, dürfte es keine zwei Meinungen geben. 

Was die Organisation von Veranstaltungen angeht, haben die Russen jedoch noch Lernbedarf. Aber vielleicht möchten sie es auch gar nicht so perfekt haben. So wie auf der Schuleröffnungsfeier der 'J.G.Herdera Rīgas Grīziņkalna vidusskola' am vergangenen Montag, als am ersten September die Kinder aus ihren dreimonatigen Ferien zurückkamen, übrigens den längsten in ganz Europa. Da versammelten sich die Kinder, Lehrer und Eltern bei strahlendem Sonnenschein auf dem Hof vorm Haupteingang, während eine Rede nach der anderen gehalten wurde, unter anderem auch von Nils Ušakovs, dem amtierenden Bürgermeister von Riga. Es wurde nämlich nicht nur der erste Schultag, sondern auch die Eröffnung der neugegründeten Schule gefeiert. Da die Schülerzahlen in den letzten Jahren an vielen Schulen stark gesunken sind, hat man nun aus zwei Schulen eine gemacht. Eine davon ist die nun ehemalige 'Rīgas Herdera vidusskola', eine russischsprachige Schule mit Deutsch als Schwerpunkt. Sie musste aus ihrem langjährigen Haus in der Skolas iela ausziehen und wurde nun mit der ehemaligen 'Rīgas Grīziņkalna vidusskola' zusammengelegt.

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