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Mittwoch, 20. August 2014

Großer Friedhof

Friedhöfe sind nicht jedermanns Sache - verständlicherweise. Und dass es nicht leicht ist, sich dem Grab einer nahestehenden Person zu nähern, steht außer Frage. Nichtsdestotrotz sind es aber auch Orte, in denen Geschichte besonders intensiv erlebbar wird. So zum Beispiel auf dem Großen Friedhof (Lielie kapi) im Nordosten Rigas, der von 1773 bis 1944 die bevorzugte letzte Ruhestätte der Deutschbalten war. Etwa zwei Drittel der dort angelegten Grabstätten gehörten Deutschbalten.


Meine Wohnung befindet sich nur wenige Minuten von dort entfernt, und so ist es naheliegend, dass ich hin und wieder zwischen den alten Gruften, Kreuzen und gebrochenen Säulen spazieren gehe und, je nach Stimmung, meine Gedanken treiben lasse oder, und das kommt häufiger vor, sie zu ordnen versuche.

Seit Jahren wird dieses etwa 22 Hektar großes Gebiet, das der Evangelisch Lutherischen Gemeinde gehört, mehr oder weniger sich selbst überlassen. Umgekippte Grabsteine bleiben liegen und Familiengruften dienen als Unterschlupf für Obdachlose. Die Verwahrlosung begann schon in den Nachkriegsjahren, als viele Gräber geplündert oder zerstört wurden. Darüber hinaus entschied der Stadtrat in den 1960er Jahren, den Friedhof, der 1957 endgültig geschlossen worden war, in einen Park umzuwandeln. Daraufhin wurde ein großer Teil der Gräber entfernt.
 

Von einem gepflegten Park ist heute aber nicht viel zu erkennen, im Gegenteil, man muss nicht überrascht sein, wenn man zwischen den alten Ahorn-, Linden- und Eichenbäumen Relikte irgendwelcher Gräber entdeckt, und sei es nur ein abgebrochenes Teil eines Kreuzes oder eine Eisenstange eines alten Grabzaunes.

Meine Gedanken kreisen während meiner Spaziergänge oft um die Deutschbalten, die 1939 im Zuge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes innerhalb kürzester Zeit ihre Heimat verlassen und nach Deutschland oder in die eroberten Gebiete Polens übersiedeln mussten. Einer von Ihnen war zum Beispiel Wilhelm Bockslaff (1858-1945), der einer Rigenser Kaufmannsfamilie entstammte und zu einem der bedeutendsten Architekten Rigas avancierte. Von ihm stammen unter anderem die Entwürfe zum Wohnhaus der Großen Gilde, zur Kunstakademie (ehemals Börsen-Kommerzschule) und zur Jugendstilkirche in Dubulti (Dubbeln), einem Ortsteil von Jūrmala (Rigaer Strand). Er starb 1945 in Posen während eines Bombardements. Seine Grabstätte, ein Familiengrab, gehört zu den gepflegtesten Gräbern des Großen Friedhofs. Seine Nachkommen haben es restaurieren und seinen Namen nachträglich eingravieren lassen.

 

Die meisten Gräber sind heute aber verschwunden. Dort, wo nun im Frühling die Krokusse knospen, im Herbst die Blätterhaufen liegen und im Winter Kinder auf Schlitten von ihren Eltern auf winzige Hügel gezogen werden, lagen sie einst, die Deutschbalten, die über 700 Jahre lang die Geschicke der Stadt Riga bestimmt haben, und deren Nachfahren nun in ganz Deutschland verteilt leben. Viele von ihnen sind in deutschbaltischen Organisationen aktiv, doch nur wenige kommen zurück, um hier ein neues Leben anzufangen.

So gesehen wirkt ein Gang über den Großen Friedhof auf mich wie ein Spiegelbild der deutschbaltischen Kultur. Wie ein Kapitel, dass zugeschlagen wurde und nicht weitergeschrieben werden kann. Die Letten und die Russen, die heute die Mehrheit in der Stadt ausmachen, haben nur wenig Interesse an diesem Aspekt ihrer Vergangenheit. Der Vergangenheit ihrer Stadt. Aber vielleicht ändert sich das ja nochmal.







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Samstag, 12. Juli 2014

Domus Rigensis

Es war ein Schritt auf unbekanntes Terrain: Letztes Wochenende war ich (zumindest teilweise) auf den alljährlich Anfang Juli stattfindenden Kulturtagen von Domus Rigensis, dem lettisch-deutschbaltischen Kulturverein, der sich vor allem „für die Bewahrung und Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes der Stadt Riga, die Begegnung von Letten und Deutschbalten und für die Vermittlung von Kenntnissen zur baltischen Geschichte und Kultur einsetzt“ (Zitat Webseite Domus Rigensis).

Komischerweise hatte ich den Kontakt zur deutschsprachigen Kultur in Riga und Lettland in all den Jahren, in denen ich immer wieder vor Ort war, mehr oder weniger gemieden. Es schien mir wichtiger, die lettische Seite (und Seele) kennenzulernen. Aber das war natürlich ein Fehler. Denn der deutsche Einfluss auf die lettische Geschichte und Kultur ist natürlich nach wie vor immens, nach ungefähr sieben Jahrhunderten, in denen Deutsche zuerst als Eroberer ins Land kamen, dann als Machthaber blieben und später, als das Gebiet unter russischer Verwaltung stand, zumindest als wirtschaftliche und soziale Elite die lettische Bevölkerung dominierten.

Davon abgesehen, dass der Einfluss der Deutschen in Riga mit dem Zuzug der lettischen Landbevölkerung zwischen 1873 bis 1913 deutlich sank, ein großer Teil der Deutschbalten nach der Bodenreform 1920, als der deutschbaltische Großgrundbesitz enteignet wurde, das Land verließ, und die noch verbliebenen Deutschbalten 1939 im Zuge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts aufgefordert wurden, „Heim ins Reich“ zu kommen und Lettland zu verlassen und sich in Ostdeutschland oder in den neueroberten Gebieten Polens niederzulassen, so dass in Lettland Ende 1939 kaum noch Deutschbalten lebten, wirkt die lange Zeit, in der Deutschbalten vorwiegend in den Städten wohnten, Schlösser besaßen oder Gutsherren waren, immer noch nach.

Deutschbalten gibt es in Lettland also nur noch sehr wenige. Aber immerhin existieren in Lettland, Estland und Deutschland nicht wenige Organisationen, die an die Geschichte und die Kultur der Deutschbalten erinnern. Und nun nehme ich also, viel zu spät, endlich Kontakt zu „Domus Rigensis“, auf, dem wichtigsten Verein für lettisch-deutschbaltischen Kulturaustausch in Riga.

Herzstück ist ein kleines Büro im 300 Jahre alten Mentzendorffhaus, einem unter der Führung des Architekten Pēteris Blūms sorgfältig restaurierten Wohnhaus in der Altstadt von Riga, in dem heute auch das Museum für Städtische Wohnkultur untergebracht ist. Büroleiterin ist Nora Rutka, die mich bei meinem ersten Besuch kurz vor Beginn der Kulturtage so freundlich begrüßte, dass ich mich irgendwie ärgerte, nicht schon früher hierher gekommen zu sein. 

Die Veranstaltungen der Domus-Rigensis-Kulturtage fanden dieses Jahr aber vor allem im Haberlandsaal des Rigaer Stadt- und Schifffahrtsmuseums statt. Neben der obligatorischen Mitgliederversammlung gab es am ersten Abend auch Vorträge von Prof.
Erwin Oberländer aus Bonn mit dem Titel „Rigas Aufstieg zur europäischen Wirtschaftsmetropole und zur multikulturellen Vielvölkerstadt zwischen 1860 und 1914“ sowie von dem Dramaturgen Mikus Čeže aus Riga mit dem Titel „Die Bedeutung von Geld und Macht beim Wandel vom Deutschen Stadttheater zur Lettischen Nationaloper“ zu hören.

Vortrag von Prof. Erwin Oberländer

Vortrag von Mikus Čeže

Am zweiten Tag fand im gleichen Saal ein Konzert der Sopranistin Martina Doehring und des Pianisten und Komponisten Aivars Kalejs statt (inklusive der multi-medial präsentierten Ausstellung „Baltness–wo sich Mensch und Meer begegnen“, einer „vergnüglichen Hommage an Lettland“), bevor am Nachmittag eine Führung durch die Lettische Nationaloper unternommen (Leitung: von Mikus Čeže) und es am Abend auf dem Schiff „Vecriga“ im Rahmen eines „Baltischen Abends“ Gelegenheit zum „geselligen Beisammensein“ gab. Am letzten Tag fand abschließend noch ein gemeinsamer Ausflug nach Goldingen/Kuldiga statt.

Nein, ich war nicht auf allen Veranstaltungen, aber ich habe dennoch sehr interessante Persönlichkeiten kennengelernt, wie etwa die deutschbaltische Historikerin und Journalistin Anita Kugler, Verfasserin des Buches "Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier", der unglaublichen Geschichte von Fritz Scherwitz/Eleke Serewitz, der von einem deutschen Gericht zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, weil er „drei jüdische Häftlinge seines Lagers erschossen haben soll. Strafverschärfend wurde ihm angelastet, dass er moralisch besonders verwerflich gehandelt habe, weil er als Jude eigene "Rassegenossen" getötet haben soll.“ (Zitat aus Spiegel Online-Interview mit Anita Kugler, 2004). Als ob es weniger schlimm wäre, wenn Christen Juden töten würden...
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