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Montag, 12. Januar 2015

Iveta

Aus der Lesung im Rahmen der Abschlussveranstaltung als Stadtschreiber am 23. September 2014 im Goethe-Institut Riga

„Das muss ich ihnen jetzt aber doch erzählen!“ Iveta beugt sich mir entgegen, während ich schnell noch die Tasse mit dem Früchtetee beiseite stelle, und ihre sonst so melodiöse, beinahe theatralische Stimme bekommt einen mir ganz unbekannten Klang. „Ich habe neun Kredite aufgenommen! Und keine Bank wusste vom Kredit der anderen.“ Sofort schießen mir, dem abgesicherten Deutschen, naive Fragen durch den Kopf, wie „Kann das sein?“, „Hätte ich das auch gemacht?“ oder „Wird sie ihre Schulden je wieder zurückzahlen können?“

Da lehnt sich Iveta auch schon wieder zurück und ergänzt scheinbar ruhig: „Jetzt haben sie mein Haus genommen, dass ich damals mit meinem Mann aufgebaut habe.“ Nach und nach erfahre ich Dinge, die ich nie erwartet hätte, obwohl ich Ähnliches vermutet habe. Denn wie kann es sonst sein, dass diese energische, intelligente und auch feinfühlige Dame Ende fünfzig gleich drei Jobs gleichzeitig ausübt und trotzdem in einer Art Wohngemeinschaft wohnt? Einer Zweck-WG, in der diejenige Person, die fast nie da ist, das Sagen hat, nämlich die Tochter des über achtzigjährigen, pflegebedürftigen Wohnungsbesitzers. Da die restlichen zwei Zimmer an ausländische Studentinnen vergeben sind, bleibt die Pflegearbeit inklusive tägliches Kochen fast immer an Iveta hängen. Für eine reduzierte Miete selbstverständlich.

Das Zimmer in dem alten, teilrenovieren Jugendstilhaus in der Ģertrūdes iela bewohnt sie gerade mal ein halbes Jahr. Es ist ihre erste Bleibe in Riga, seit sie Aizkraukle, eine kleine Stadt im Südosten Lettlands, verlassen hat. Alles wirkt sehr provisorisch, und die Möbel, die nicht ihre eigenen sind, scheinen allesamt Relikte aus vergangenen Sowjetzeiten zu sein. „Wenn ich etwas Eigenes finde, ziehe ich hier sofort wieder aus,“ erklärt mir Iveta mit entschlossener Miene. Optimismus und Fröhlichkeit waren möglicherweise Eigenschaften, die schon immer einen Teil ihres Charakters ausmachten. Doch nun wirkt diese positive Ausstrahlung ein wenig aufgesetzt, scheint jederzeit in sich zusammenfallen zu können, wie eine dünne, äußerst empfindliche Maske.

Iveta hat zahlreiche Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Vor allem den Unfalltod ihrer beiden drei- und fünfjährigen Kinder Ende der 1980er Jahre hat sie bis heute nicht überwunden, sie tut sich schwer, darüber zu sprechen. Ebenso geht es ihr, als ich sie nach ihrem Mann frage, der nur wenige Jahre später an Krebs verstarb. Nun ist sie mehr oder weniger allein, irgendeinen Kontakt zu Verwandten hat sie nicht. Vielleicht war der Verlust ihrer Familie auch einer der Gründe, warum sie ihre Stelle als Deutschlehrerin an einer Schule in Aizkraukle aufgab, um etwas völlig Neues zu beginnen. Ein Schönheitssalon sollte es sein, das war ihr großer Traum, und damit verbunden war natürlich die Hoffnung, mehr Geld zu verdienen als sie es bis dahin getan hatte.

Die Banken gaben ihr die benötigten Kredite, allerdings zu äußerst ungünstigen Konditionen. Geld zu bekommen war vor der lettischen Wirtschaftskrise, die 2008 einsetzte, ein Kinderspiel. Die Wachstumsraten waren enorm, und Immobilienbesitzer waren felsenfest davon überzeugt, dass der Wert ihrer Wohnung beständig steigen würde. Das ganze Land befand sich in einer Art Konsumrausch. Der Erfolg der anderen Existenzgründer beflügelte auch Iveta. Doch dann lief das Geschäft schlechter als erwartet, und es kam, wie es kommen musste: Die Kredite konnten nicht zurückgezahlt werden und das Haus in Aizkraukle wurde gepfändet. Und wie so oft folgt einem Fehler der nächste Fehler: In ihrer Verzweiflung versuchte Iveta das fehlende Geld im Internet bei Online-Quizshows zu gewinnen – und verlor abermals.

Beinahe eine viertel Million Euro müsse sie nun an die Banken zurückzahlen, erzählt sie mir. Ihre Tätigkeit als Museumswärterin hilft da nicht viel. Auch nicht ihre Jobs als Deutschlehrerin bei einer lettischen Arbeitsvermittlungsagentur und als Mitarbeiterin eines Marktforschungsinstituts. Letztendlich könne sie arbeiten so viel sie wolle, ihre Schulden würden für immer bestehen bleiben, und ihr Leben am Existenzminimum ebenfalls.

„Reden wir doch über etwas anderes!“ sagt Iveta mit fröhlicher Stimme und bietet mir noch einen Keks an. Da öffnet sich die Zimmertür und der alte Wohnungsbesitzer schaut herein. „Ach so, Entschuldigung, das wusste ich nicht.“ grummelt er auf Lettisch und schließt die Tür wieder. Scheinbar wollte er Iveta wieder um einen Gefallen bitten. „Heute morgen habe ich für ihn eingekauft und gekocht. Aber seine Tochter war mal wieder nicht zufrieden mit mir, die Kartoffeln waren zu hart, angeblich.“ Iveta schaut auf die Uhr. „Ich muss jetzt losgehen, ins Museum. Danach mache ich noch ein paar Umfragen.“ Sie steht auf und will den Tisch abräumen. Als sie mich ganz betroffen im Sessel sitzen sieht, hellt sich ihr Gesicht auf, und mit ironisch-pathetischer Stimme ruft sie aus, als wolle sie mich aufmuntern: „Beigas labas, viss labs! Ende gut, alles gut!“ Den Humor hat Iveta wahrlich nicht verloren, und das ist wohl auch gut so.
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