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Montag, 12. Januar 2015

Vladimir Dimitrievich

Aus der Lesung im Rahmen der Abschlussveranstaltung als Stadtschreiber am 23. September 2014 im Goethe-Institut Riga

Hinter einem überfüllten und unaufgeräumten Schreibtisch aus den sechziger Jahren sitzt, auf einem schmalen Hocker, ein alter, etwas beleibter, aber kräftiger Mann. In der einen Hand hält er eine Lupe, in der anderen eine Klarsichthülle mit Diapositiven. Konzentriert begutachtet er seine Fotos, hält sie gegen das Licht, seufzt ein wenig und legt sie dann beiseite. Dann widmet er sich seinem Manuskript, welches er vor über zwanzig Jahren verfasst hat. Immer wieder schreibt er handschriftliche Kommentare in den mit einer alten deutschen Schreibmaschine geschriebenen Text. Es handelt sich dabei um seine Eindrücke, die er während einer Kuba-Reise mit einer sowjetischen Delegation gesammelt hat. Seitdem sucht er für sein Schreibprojekt einen deutschsprachigen Verlag. Dass sein Text bereits bei einem renommierten Moskauer Verlag auf Russisch erschienen ist, befriedigt ihn nicht. Er will, das auch die Menschen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz von seinen Erlebnissen auf Kuba erfahren. Für viel Geld hat er vor einigen Jahren eine deutsche Übersetzung anfertigen lassen. Doch niemand äußert Interesse, und das lässt ihm keine Ruhe.

Vladimir Dimitrievich steht auf. Seinen Bademantel bindet er notdürftig zu, in seinen zertretenen Badelatschen schlurft er in die Küche und öffnet in gebückter Haltung den auf dem Boden stehenden Kühlschrank. Fliegen surren rund um die Küchenlampe. Während er nach einem Stück Fleisch aus dem Kühlschrank greift und es in eine Pfanne wirft, hört man unten auf dem Hof ganz leise das Miauen einiger verwahrloster Katzen, die bereits auf ihre tägliche Fütterung warten. Da öffnet Vladimir Dimitrievich eine Plastikdose und schmeißt den hungernden Katzen die Reste seiner gestrigen Mahlzeit herunter.

Vladimir Dimitrievich ist pensionierter Journalist. Dass er mittlerweile über achtzig Jahre alt ist, sieht man ihm nicht an. Mit seinem weißen Vollbart und seinen grauen, beinahe schulterlangen Haaren, könnte er auf den ersten Blick ohne Weiteres auch als russisch-orthodoxer Priester durchgehen. Doch mit Religion hat Vladislav Dimitrievich herzlich wenig zu tun. Im Gegenteil. Sein kräftiger Körperbau verweist auf seine Jugend, als er, wie seine beiden Brüder, begeistert Eishockey gespielt hat.

Wie viele andere Russen kam er nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie nach Riga. Seinem Vater wurde damals eine Stelle als Flugzeugingenieur angeboten. Die Entscheidung, die Heimatstadt Perm, in der die Familie schon seit Generationen lebte, von einen Tag auf den anderen zu verlassen, fiel sicher nicht leicht. Andererseits waren die Jahre seit der russischen Revolution schwer gewesen. Denn dem Großvater hatten die Rotarmisten das neugebaute Mehrfamilienhaus entrissen. In die Partei ist der Vater deshalb auch nie eingetreten, und so hielt es auch Vladimir Dimitrievich zeit seines Lebens.

In den ersten Jahren in der neuen Stadt lebten sie zu fünft in einem kleinen Zimmer, mit unangenehmen Nachbarn, einer überfüllten Gemeinschaftsküche und einer trostlosen Toilette im Treppenhaus. Im Hof, daran kann er sich gut erinnern, spielten fast nur russische Kinder. Und einzige lettische Junge im Hof war gezwungen, Russisch zu sprechen, wenn er mit seinen neuen Freunden spielen wollte. Natürlich lernten die russischen Kinder in der Schule Lettisch, aber der Unterricht fiel oft aus, und das Fach wurde von den Schülern nicht besonders ernst genommen.

Eine große journalistische Karriere blieb Vladimir Dimitrievich zwar verwehrt, aber immerhin war er durchgehend bei verschiedenen Zeitungen beschäftigt. Doch als die Sowjetunion dann 1990/91 plötzlich zerbrach und Lettland unabhängig wurde, dauerte es nicht lange, bis er entlassen wurde. Eine neue Anstellung war aufgrund seiner russischen Herkunft und seines gehobenen Alters aussichtslos. Die niedrige Rente, auf die er dann Anspruch hatte, reichte bei weitem nicht aus zum Leben. Hätte er nicht Verwandte im westlichen Ausland gehabt, die ihn unterstützten, wäre es unmöglich gewesen, mit seiner Frau in der Vierzimmerwohnung zu bleiben, die sie früher mit ihren beiden nun erwachsenen Kindern bewohnt hatten. Dass diese seit Beginn der 1990er Jahre im westlichen Ausland lebten und dort lange Zeit nicht einmal genug Geld für den eigenen Bedarf verdienen konnten, machte die Sache nicht gerade einfacher.

Obwohl er bereits in den vierziger Jahren in Riga lebte, bekam er nach der Unabhängigkeit Lettlands nicht automatisch die lettische Staatsbürgerschaft. Stattdessen wurde er, wie viele andere Russen auch, zum sogenannten Nichtbürger Lettlands erklärt, mit Aufenthalts-, aber ohne Wahlrecht. Die lettische Staatsbürgerschaft zu erwerben, blieb Anfang der 1990er Jahre nur wenigen Russen vorbehalten. Erst aufgrund von internationalem Druck lockerte die lettische Regierung die Bedingungen. Doch viele Russen empfanden es schon als Beleidigung, überhaupt einen Antrag auf Einbürgerung stellen zu müssen, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft in dem Lande zu werden, in dem sie geboren worden waren oder zumindest seit ihrer frühen Kindheit lebten. Vladimir Dimitrievich sah dies pragmatischer und entschied sich dafür, mit beinahe siebzig Jahren die lettische Sprache zu erlernen und die Staatsbürgerschafts-Prüfung abzulegen.

Vladimir Dimitrievich erhebt sich, stellt den leeren Teller beiseite und geht ins Wohnzimmer. Er schließt die Tür zum angrenzenden Schlafzimmer, in dem seine schwer kranke Frau liegt und um die er sich fast ganz alleine kümmert. Dann schaltet er, sehr laut, den Fernseher an. Als erstes schaut er sich die Wetternachrichten an, dann den Bericht über die Geschehnisse in der Ukraine, eines der wenigen Themen, die ihn überhaupt noch interessieren. Doch schon bald macht er den Fernseher wieder aus und legt sich hin, um seinen Mittagsschlaf zu machen. Ukraine? Putin? Lettland? Über diese Fragen nachdenkend schläft er langsam ein. Einigermaßen beruhigt. Dass Putin einen gewaltsamen Aufstand der Russen ihn Lettland militärisch unterstützen, ja, provozieren würde, kann er sich einfach nicht vorstellen. Und er hätte auch etwas dagegen. Denn dann könnte er nicht mehr ohne Visum zu seinen Verwandten nach Deutschland reisen.

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