Hinter einem überfüllten
und unaufgeräumten Schreibtisch aus den sechziger Jahren sitzt, auf
einem schmalen Hocker, ein alter, etwas beleibter, aber kräftiger
Mann. In der einen Hand hält er eine Lupe, in der anderen eine
Klarsichthülle mit Diapositiven. Konzentriert begutachtet er seine
Fotos, hält sie gegen das Licht, seufzt ein wenig und legt sie dann
beiseite. Dann widmet er sich seinem Manuskript, welches er vor über
zwanzig Jahren verfasst hat. Immer wieder schreibt er
handschriftliche Kommentare in den mit einer alten deutschen
Schreibmaschine geschriebenen Text. Es handelt sich dabei um seine
Eindrücke, die er während einer Kuba-Reise mit einer sowjetischen
Delegation gesammelt hat. Seitdem sucht er für sein Schreibprojekt
einen deutschsprachigen Verlag. Dass sein Text bereits bei einem
renommierten Moskauer Verlag auf Russisch erschienen ist, befriedigt
ihn nicht. Er will, das auch die Menschen in Deutschland, Österreich
und in der Schweiz von seinen Erlebnissen auf Kuba erfahren. Für
viel Geld hat er vor einigen Jahren eine deutsche Übersetzung
anfertigen lassen. Doch niemand äußert Interesse, und das lässt
ihm keine Ruhe.
Vladimir
Dimitrievich steht auf. Seinen Bademantel bindet er notdürftig zu,
in seinen zertretenen Badelatschen schlurft er in die Küche und
öffnet in gebückter Haltung den auf dem Boden stehenden
Kühlschrank. Fliegen surren rund um die Küchenlampe. Während er
nach einem Stück Fleisch aus dem Kühlschrank greift und es in eine
Pfanne wirft, hört man unten auf dem Hof ganz leise das Miauen
einiger verwahrloster Katzen, die bereits auf ihre tägliche
Fütterung warten. Da öffnet Vladimir Dimitrievich eine Plastikdose
und schmeißt den hungernden Katzen die Reste seiner gestrigen
Mahlzeit herunter.
Vladimir
Dimitrievich ist pensionierter Journalist. Dass er mittlerweile über
achtzig Jahre alt ist, sieht man ihm nicht an. Mit seinem weißen
Vollbart und seinen grauen, beinahe schulterlangen Haaren, könnte er
auf den ersten Blick ohne Weiteres auch als russisch-orthodoxer
Priester durchgehen. Doch mit Religion hat Vladislav Dimitrievich
herzlich wenig zu tun. Im Gegenteil. Sein kräftiger Körperbau
verweist auf seine Jugend, als er, wie seine beiden Brüder,
begeistert Eishockey gespielt hat.
Wie
viele andere Russen kam er nach dem
Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie nach Riga. Seinem Vater wurde
damals eine Stelle als Flugzeugingenieur angeboten. Die Entscheidung,
die Heimatstadt Perm,
in der die Familie schon seit Generationen lebte, von einen Tag auf
den anderen zu verlassen, fiel sicher nicht leicht. Andererseits
waren die Jahre seit der russischen Revolution schwer gewesen. Denn
dem Großvater hatten die Rotarmisten das neugebaute Mehrfamilienhaus
entrissen. In die Partei ist der Vater deshalb auch nie eingetreten,
und so hielt es auch Vladimir Dimitrievich zeit seines Lebens.
In
den ersten Jahren in der neuen Stadt lebten sie zu fünft in einem
kleinen Zimmer, mit unangenehmen Nachbarn, einer überfüllten
Gemeinschaftsküche und einer trostlosen Toilette im Treppenhaus. Im
Hof, daran kann er sich gut erinnern, spielten fast nur russische
Kinder. Und einzige lettische Junge im Hof war gezwungen, Russisch zu
sprechen, wenn er mit seinen neuen Freunden spielen wollte. Natürlich
lernten die russischen Kinder in der Schule Lettisch, aber der
Unterricht fiel oft aus, und das Fach wurde von den Schülern nicht
besonders ernst genommen.
Eine
große journalistische Karriere blieb Vladimir Dimitrievich zwar
verwehrt, aber immerhin war er durchgehend bei verschiedenen
Zeitungen beschäftigt. Doch als die Sowjetunion dann 1990/91
plötzlich zerbrach und Lettland unabhängig wurde, dauerte es nicht
lange, bis er entlassen wurde. Eine neue Anstellung war aufgrund
seiner russischen Herkunft und seines gehobenen Alters aussichtslos.
Die niedrige Rente, auf die er dann Anspruch hatte, reichte bei
weitem nicht aus zum Leben. Hätte er nicht Verwandte im westlichen
Ausland gehabt, die ihn unterstützten, wäre es unmöglich gewesen,
mit seiner Frau in der Vierzimmerwohnung zu bleiben, die sie früher
mit ihren beiden nun erwachsenen Kindern bewohnt hatten. Dass diese
seit Beginn der 1990er Jahre im westlichen Ausland lebten und dort
lange Zeit nicht einmal genug Geld für den eigenen Bedarf verdienen
konnten, machte die Sache nicht gerade einfacher.
Obwohl
er bereits in den vierziger Jahren in Riga lebte, bekam er nach der
Unabhängigkeit Lettlands nicht automatisch die lettische
Staatsbürgerschaft. Stattdessen wurde er, wie viele andere Russen
auch, zum sogenannten Nichtbürger Lettlands erklärt, mit
Aufenthalts-, aber ohne Wahlrecht. Die lettische Staatsbürgerschaft
zu erwerben, blieb Anfang der 1990er Jahre nur wenigen Russen
vorbehalten. Erst aufgrund von internationalem Druck lockerte die
lettische Regierung die Bedingungen. Doch viele Russen empfanden es
schon als Beleidigung, überhaupt einen Antrag auf Einbürgerung
stellen zu müssen, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft in
dem Lande zu werden, in dem sie geboren worden waren oder zumindest
seit ihrer frühen Kindheit lebten. Vladimir Dimitrievich sah dies
pragmatischer und entschied sich dafür, mit beinahe siebzig Jahren
die lettische Sprache zu erlernen und die Staatsbürgerschafts-Prüfung
abzulegen.
Vladimir
Dimitrievich erhebt sich, stellt den leeren Teller beiseite und geht
ins Wohnzimmer. Er schließt die Tür zum angrenzenden Schlafzimmer,
in dem seine schwer kranke Frau liegt und um die er sich fast ganz
alleine kümmert. Dann schaltet er, sehr laut, den Fernseher an.
Als erstes schaut er sich die Wetternachrichten an, dann den Bericht
über die Geschehnisse in der Ukraine, eines der wenigen Themen, die
ihn überhaupt noch interessieren. Doch schon bald macht er den Fernseher wieder aus und legt sich hin, um seinen Mittagsschlaf zu machen. Ukraine? Putin?
Lettland? Über diese Fragen nachdenkend schläft er langsam ein.
Einigermaßen beruhigt. Dass Putin einen gewaltsamen Aufstand der
Russen ihn Lettland militärisch unterstützen, ja, provozieren
würde, kann er sich einfach nicht vorstellen. Und er hätte auch
etwas dagegen. Denn dann könnte er nicht mehr ohne Visum zu seinen
Verwandten nach Deutschland reisen.