Seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, als befände ich mich gerade im
Zentrum des Weltgeschehens. Das ist natürlich maßlos übertrieben, aber
die 27 000 Teilnehmer der 8. World Choir Games in Riga, übrigens vom
Verein "Interkultur" in Gießen organisiert, machen schon einen großen
Eindruck auf mich, wie sie so in kleineren oder größeren Gruppen gut
gelaunt durch die Straßen von Riga laufen, meistens auf dem Weg zu einem
der zahllosen Konzerte, die in verschiedenen Sälen stattfinden, sei es
in der Großen Gilde, die das Lettische Nationals Symphonieorchester
sonst sein Zuhause nennt, oder in der Arena, wo sonst Eishockeyspiele
ausgetragen werden oder internationals Popstars auftreten.
Es ist ein fantastisches Klima in der Stadt, und das Wetter spielt auch
mit. Die Konzerte sind hervorragend besucht, was mich überrascht, denn
ich ging davon aus, dass die Rigenser schon übersättigt seien von dem
Kulturangebot im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres. Aber den meisten
geht es wahrscheinlich wie mir. Hat man erst einmal ein Konzert besucht,
will man noch mehr hören und sehen, denn die Chöre kommen aus der
ganzen Welt, aus China, aus Südafrika, aus Südamerika, aus den USA, aus
Deutschland, aus den Balkanländern. Und das Niveau ist hoch, sehr hoch.
Es sind ja nicht nur die großen Konzerte mit den Stars der Szene,
sondern die sogenannten Freundschaftskonzerte, die in den Parks gegeben
werden, oder die Auftritte der Chöre im Rahmen des Wettbewerbs in den
unterschiedlichsten Kategorien, die vom gemischten Kammerchor über
Folklore, zeitgenössische Chormusik (mit mindestens einer Uraufführung
von jedem teilnehmenden Chors), Gospel bis hin zum Jazzchor reichen (es
sind noch lange nicht alle Kategorien aufgezählt). Nicht zuletzt gibt es
da ja noch Workshops bzw. Meisterklassen bei solchen Chormusik-Größen
wie Kirby Shaw oder Morten Lauridsen.
Das größte Konzert mit 15 000 Sängern in der großen Estrade im Mežaparks
(Kaiserwald) habe ich leider verpasst, aber ich kann mir gut
vorstellen, welche "Energie" dort geherrscht haben muss - Singen steckt
schließlich an, vor allem wenn gut gesungen wird. So zum Beispiel am
Freitag Abend beim Wettbewerbs-Konzert im Saal der Stradiņs Universität,
wo unter anderem ein chinesischer, ein saudi-arabischer Männerchor, ein
kroatischer sowie ein bosnisch-herzegowinischer Chor um den Sieg in der
Kategorie Folklore gesungen haben, Ausgang offen …
Für mich haben alle teilnehmenden Chöre gewonnen, aber die Juroren sehen
das anders. Am Samstag werden die letzten Preise vergeben, bevor die 27
000 Sänger die Heimreise antreten.
Auch die King's Singers werden spätestens dann aus Riga abreisen,
nachdem sie die ganze Woche in Riga verbracht und in der Zeit zwei
Konzerte gegeben und einen Workshop angeleitet haben. Deren Gesangskunst
durfte ich ein Mal live erleben, und zwar bei einem der "Galakonzerte"
im Laufe der Woche. Eigentlich ein zweites Mal in meinem Leben, denn ich
kann mich dunkel daran erinnern, dass ich sie in meiner frühen Kindheit
in Göttingen erlebt haben muss. Allerdings in einer beinah komplett
anderen Besetzung, einzig der Sopran-Sänger (Countertenor?) gehört dem
Aussehen nach noch der "Gründergeneration" der King's Singers an, alle
anderen Sänger sind smarte junge Männer (und eben auch "very british"),
die beim Publikum den einen oder anderen Jubelschrei ausgelöst haben.
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Die King's Singers in Aktion Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014 |
Nicht vergessen darf aber auch, dass im Rahmen des Konzerts auch noch
der hervorragende lettische Chor "Ave Sol" sein Bestes gab. Den tiefsten
Eindruck hinterlassen haben bei mir aber weder der Chor "Voices of
Unity" aus den USA noch die lettische Band "Instrumenti" mit dem Chor
"Sōla", sondern der niederländische Chor "Dekoor Close Harmony" mit
einem famosen Auftritt zusammen mit einer kleinen Jazzband, bestehend
aus Klavier, Gitarre und Schlagzeug. Das war eine überzeugende
Kombination von Chor- und Jazzmusik, wie ich sie zuvor noch nie erlebt
hatte.
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"Dekoor Close Harmony" aus Utrecht Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014 | | | |
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Die lettische Band "Instrumenti" mit dem lettischen Chor
"Sōla" Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014 |
Man hat aber auch so seine Erlebnisse oder Bekanntschaften zwischen den
Konzerten. Heute kam ich beispielsweise mit einer Ukrainerin ins
Gespräch, die extra aus Dnipropetrowsk angereist war, um diese
Chorolympiade zu erleben. Sie habe es satt, erzählt sie mir, solche
Events am Fernseher oder im Nachhinein auf Youtube anzusehen, es sei ein
viel größeres Erlebnis, direkt dabei zu sein. Direkt dabei sei sie auch
bei den Ereignissen auf dem Maidan in Kiew gewesen, und am Freitag
Nachmittag bei der kleinen Demonstration von etwa 200 Letten vor der
Russischen Botschaft in Riga, wegen des mutmaßlichen Abschusses des
Passagierflugzeugs bei Donezk. Putin sei derjenige, der daran schuld sei
und endlich abgesetzt werden müsse, teilt sie mir entrüstet mit, und
das als Russin, die in der Ukraine lebt. Nächstes Mal, 2016, sollen die
World Choir Games übrigens in Sotschi stattfinden. Dann treffen
weltweite Chorbegeisterung und russische Machtpolitik aufeinander. Wie
das wohl wird, frage ich mich …