Dienstag, 22. Juli 2014

Chorfest mit 27 000 Teilnehmern

Seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, als befände ich mich gerade im Zentrum des Weltgeschehens. Das ist natürlich maßlos übertrieben, aber die 27 000 Teilnehmer der 8. World Choir Games in Riga, übrigens vom Verein "Interkultur" in Gießen organisiert, machen schon einen großen Eindruck auf mich, wie sie so in kleineren oder größeren Gruppen gut gelaunt durch die Straßen von Riga laufen, meistens auf dem Weg zu einem der zahllosen Konzerte, die in verschiedenen Sälen stattfinden, sei es in der Großen Gilde, die das Lettische Nationals Symphonieorchester sonst sein Zuhause nennt, oder in der Arena, wo sonst Eishockeyspiele ausgetragen werden oder internationals Popstars auftreten.

Es ist ein fantastisches Klima in der Stadt, und das Wetter spielt auch mit. Die Konzerte sind hervorragend besucht, was mich überrascht, denn ich ging davon aus, dass die Rigenser schon übersättigt seien von dem Kulturangebot im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres. Aber den meisten geht es wahrscheinlich wie mir. Hat man erst einmal ein Konzert besucht, will man noch mehr hören und sehen, denn die Chöre kommen aus der ganzen Welt, aus China, aus Südafrika, aus Südamerika, aus den USA, aus Deutschland, aus den Balkanländern. Und das Niveau ist hoch, sehr hoch.

Es sind ja nicht nur die großen Konzerte mit den Stars der Szene, sondern die sogenannten Freundschaftskonzerte, die in den Parks gegeben werden, oder die Auftritte der Chöre im Rahmen des Wettbewerbs in den unterschiedlichsten Kategorien, die vom gemischten Kammerchor über Folklore, zeitgenössische Chormusik (mit mindestens einer Uraufführung von jedem teilnehmenden Chors), Gospel bis hin zum Jazzchor reichen (es sind noch lange nicht alle Kategorien aufgezählt). Nicht zuletzt gibt es da ja noch Workshops bzw. Meisterklassen bei solchen Chormusik-Größen wie Kirby Shaw oder Morten Lauridsen.

Das größte Konzert mit 15 000 Sängern in der großen Estrade im Mežaparks (Kaiserwald) habe ich leider verpasst, aber ich kann mir gut vorstellen, welche "Energie" dort geherrscht haben muss - Singen steckt schließlich an, vor allem wenn gut gesungen wird. So zum Beispiel am Freitag Abend beim Wettbewerbs-Konzert im Saal der Stradiņs Universität, wo unter anderem ein chinesischer, ein saudi-arabischer Männerchor, ein kroatischer sowie ein bosnisch-herzegowinischer Chor um den Sieg in der Kategorie Folklore gesungen haben, Ausgang offen …

Für mich haben alle teilnehmenden Chöre gewonnen, aber die Juroren sehen das anders. Am Samstag werden die letzten Preise vergeben, bevor die 27 000 Sänger die Heimreise antreten. Auch die King's Singers werden spätestens dann aus Riga abreisen, nachdem sie die ganze Woche in Riga verbracht und in der Zeit zwei Konzerte gegeben und einen Workshop angeleitet haben. Deren Gesangskunst durfte ich ein Mal live erleben, und zwar bei einem der "Galakonzerte" im Laufe der Woche. Eigentlich ein zweites Mal in meinem Leben, denn ich kann mich dunkel daran erinnern, dass ich sie in meiner frühen Kindheit in Göttingen erlebt haben muss. Allerdings in einer beinah komplett anderen Besetzung, einzig der Sopran-Sänger (Countertenor?) gehört dem Aussehen nach noch der "Gründergeneration" der King's Singers an, alle anderen Sänger sind smarte junge Männer (und eben auch "very british"), die beim Publikum den einen oder anderen Jubelschrei ausgelöst haben.

Die King's Singers in Aktion
Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Nicht vergessen darf aber auch, dass im Rahmen des Konzerts auch noch der hervorragende lettische Chor "Ave Sol" sein Bestes gab. Den tiefsten Eindruck hinterlassen haben bei mir aber weder der Chor "Voices of Unity" aus den USA noch die lettische Band "Instrumenti" mit dem Chor "Sōla", sondern der niederländische Chor "Dekoor Close Harmony" mit einem famosen Auftritt zusammen mit einer kleinen Jazzband, bestehend aus Klavier, Gitarre und Schlagzeug. Das war eine überzeugende Kombination von Chor- und Jazzmusik, wie ich sie zuvor noch nie erlebt hatte.

 "Dekoor Close Harmony" aus Utrecht 
Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Die lettische Band "Instrumenti" mit dem lettischen  Chor "Sōla"
Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
 Man hat aber auch so seine Erlebnisse oder Bekanntschaften zwischen den Konzerten. Heute kam ich beispielsweise mit einer Ukrainerin ins Gespräch, die extra aus Dnipropetrowsk angereist war, um diese Chorolympiade zu erleben. Sie habe es satt, erzählt sie mir, solche Events am Fernseher oder im Nachhinein auf Youtube anzusehen, es sei ein viel größeres Erlebnis, direkt dabei zu sein. Direkt dabei sei sie auch bei den Ereignissen auf dem Maidan in Kiew gewesen, und am Freitag Nachmittag bei der kleinen Demonstration von etwa 200 Letten vor der Russischen Botschaft in Riga, wegen des mutmaßlichen Abschusses des Passagierflugzeugs bei Donezk. Putin sei derjenige, der daran schuld sei und endlich abgesetzt werden müsse, teilt sie mir entrüstet mit, und das als Russin, die in der Ukraine lebt. Nächstes Mal, 2016, sollen die World Choir Games übrigens in Sotschi stattfinden. Dann treffen weltweite Chorbegeisterung und russische Machtpolitik aufeinander. Wie das wohl wird, frage ich mich …
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