Schon
lange hatte ich vor, endlich einmal die Mitsommernacht in Lettland zu
feiern. Bisher war ich nämlich immer nur im Spätsommer vor Ort,
niemals aber Ende Juni, wenn in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni im
ganzen Land kleine oder größere Feuerchen angezündet werden und
die ganze Nacht gesungen und getanzt wird, bis die Sonne aufgeht und
die Tage wieder kürzer werden.
Es
ist noch hell, als ich in
Dzegužkalns ankomme, einem kleinen Park in Pardaugava, dem Stadtgebiet links der Daugava (Düna). Hier soll eines der schönsten Līgo-Feste in Riga
stattfinden, hat man mir gesagt, nicht so bombastisch wie die
„offizielle“ Līgo-Feier am Ufer der Daugava vor den Toren der
Altstadt. Zehntausende sollen dorthin kommen, um bekannte
Schlagerstars zu hören und ein riesiges Feuer abbrennen zu sehen.
Hier in Dzegužkalns scheint es dagegen weitaus ruhiger zuzugehen, in
diesem Park, in dem sich der höchste Hügel Rigas erhebt, und von
dem aus man eine schöne Aussicht auf den Hafen, die Wantenbrücke
(Vanšu tilts) mit ihren unzähligen Drahtseilen und das
dahinterliegende Stadtzentrum hat. Überhaupt erwarte ich nicht
wirklich viel, schließlich sagte mir jeder, den ich nach einem
passenden Ort für ein Līgo-Fest befragte, dass es auf dem Land ohne
Zweifel am schönsten sei, am besten natürlich unter Freunden und
Bekannten. Die Veranstaltungen in der Stadt seien sozusagen nur ein
Trostpflaster für diejenigen, die keine Möglichkeit hätten, auf
dem Land zu feiern.
Und
so bin ich auch nicht wirklich überrascht, als mir zuerst nur ein
paar betrunkene Gestalten begegnen, ich an etlichen Getränke- und
Imbissständen vorbeikomme, und ich außer einem gerade erst
angezündeten Feuerchen nichts Außergewöhnliches entdecken kann.
Doch dann höre ich leise Musik, die schnell lauter wird, je näher
ich komme, und unüberhörbar eine der im Vorfeld angekündigten
bekannten lettischen Folkloregruppen sein muss. Vielleicht, ja,
hoffentlich ist es die Postfolkloregruppe "Iļģi", die man
auch außerhalb der Grenzen Lettlands auf Weltmusikfestivals
antreffen kann. Dann erblicke ich im unteren Teil des Parks die überraschend große
Estrade, wo hunderte Zuschauer enthusiastisch zur schwungvollen
Darbietung der Folkloregrupe „Rīgas Danču klubs“ tanzen.
Schade, "Iļģi" hätte ich gerne erlebt, aber da habe ich
mich wohl zu spät auf den Weg gemacht.
Eichenlaubkränze sieht man auf beinahe jedem zweiten Herrenkopf,
mindestens ebenso viele Blumenkränze auf den Häuptern der Damen.
Lettische Trachten, wie man sie auf den Titelseiten der
Werbeprospekte zahlreicher Tourismusagenturen findet, fallen mir hier
weit weniger auf als ich erwartet hätte.
Oberhalb der Estrade sitzen die ruhigeren Menschen, die das Geschehen
eher aus der Ferne genießen möchten. Einige von ihnen haben sich
Proviant von zu Hause mitgenommen, den sie nun stillschweigend und
genüsslich verzehren. Zwischen ihnen toben ausgelassen Kinder, die
sich auf der grünen Wiese immer wieder bergab rollen, bis sie von
ihren Eltern, die sich um die Gesundheit ihrer Liebsten sorgen, da
das Gras nun recht feucht und die Luft ziemlich kühl geworden
ist, wieder „eingesammelt“ werden. Überhaupt regnet es
zwischendurch immer wieder ein bisschen, wie schon zuvor den ganzen
Juni über. Das Wetter ist dieses Jahr bislang nicht wirklich normal,
scheint es, denn gewöhnlich ist der Juni der trockenste Sommermonat
in Lettland.
Ganz oben auf dem „Gipfel“ des Hügels spazieren die Pärchen
oder Familien und genießen die Aussicht auf die Stadt, und rund um
die drei Feuer, die ich im Areal des Parks nun mittlerweile erblicken
kann, und die, wie mir sofort auffällt, sehr gekonnt und geschickt
geschichtet sind, damit sie nicht so schnell abbrennen, stehen die
Leute und lassen sich von den Flammen wärmen. Und da höre ich
plötzlich, das überall um mich herum nicht nur Lettisch, sondern
auch Russisch gesprochen wird. Aha. Also feiern sie doch miteinander,
die Letten und die Russen. Ich bin begeistert. Gerne will ich
zugeben, dass ich mich geirrt habe in einem meiner letzten Posts. Und
sie feiern sogar gemeinsam das typischste der lettischen Feste!
Einziger Unterschied ist, und das kann man sich vermutlich denken,
dass ich keinen Russen oder keine Russin entdecken kann, der oder die
eine lettische Tracht oder irgendeinen Kranz auf dem Kopf trägt.
Aber wer weiß – ich habe es wahrscheinlich nur nicht gesehen...
Auffallend ist in dem Zusammenhang aber auch, dass sich die Russen in
deutlich höherer Dichte beim Feuer aufhalten als bei der Bühne, wo
die lettische Folkloremusik gespielt wird. Aber immerhin.
In der Estrade lösen sich nun die Gruppen ab, die Bühne wird
umgebaut. Auf der Vorbühne wird gleichzeitig der Beginn der
Johannisnacht in Form von gemeinsamem Singen und Tanzen zelebriert, auch
ich versuche, ein bisschen verschämt, einige zaghafte Schritte. Dann ist das
Prozedere auch schon bald wieder vorbei und die neue Band beginnt mit
ihrer Musik. Derweil verlassen vor allem einige Familien mit
Kindern das Gelände und gehen nach Hause. Andere verstreuen sich ein wenig im
Park oder stärken sich an den Imbissständen. Das ist wohl die Zeit, wenn, so ist zumindest der Brauch, auf den Festen auf dem Land die magische Farnblüte gesucht wird, die sich angeblich nur in der Mitsommernacht öffnet. Dass diese gerne auch zu zweit gesucht wird und die jungen Pärchen für einige Zeit im
Wald verschwinden, gehört natürlich dazu. Hier im Stadtpark ist das ein bisschen schwieriger. Worauf ich ja
noch hoffe, ist das Überspringen des Feuers, ebenfalls ein typisches Ritual. Anschauen würde
ich mir das gerne, mitmachen wohl eher nicht. Gerne würde ich
erfahren, ob da die Russen mitmachen? Vorstellen könnte ich es mir.
Trotzdem überkommt mich Müdigkeit, träge setze ich mich auf eine
der Treppenstufen, die auf den Hügel
hinaufführen. Nach Hause gehen, mich schlafen legen, das würde ich
jetzt eigentlich ganz gerne tun. Aber das geht doch nicht, denke ich,
dann bist du den ganzen Sommer über schläfrig! So zumindest besagt es der Volksglaube. Alles soll dann nämlich schief gehen, nichts
soll funktionieren, wenn man nicht mindestens bis zum Sonnenaufgang wach bleibt. Ich rappele mich also wieder auf
und geselle mich zu den Menschen am Feuer. Langsam brennt es ab, ab
und zu singen ein paar Leute Līgo-Lieder. Aber so lange ich warte,
keiner macht Anstalten, über das Feuer zu springen, und ehrlich gesagt, es ist ja auch noch viel zu groß.
Ein bisschen überrascht mich aber schon, dass nun immer mehr Menschen den Park verlassen und nach Hause zu gehen scheinen. Es ist wohl so, dass nur ein kleiner Teil bis zum Morgengrauen aushält, obwohl der Sonnenaufgang im lettischen Sommer ungefähr um fünf Uhr vonstattengeht, also relativ früh. Auch ich mache mich auf den Weg. Und habe Glück. Denn noch bevor ich bei meiner Wohnung
ankomme, ist die Sonne aufgegangen! Nun kann, nach lettischem Brauch,
bei mir ja nichts mehr schiefgehen, denke ich, schließlich ich bin ja lange genug
wachgeblieben... Und auf dem Weg zurück habe ich auf den Straßen von Riga vermutlich die Lieder gehört, die man nun wohl auch auf der
höchsten Stelle im Dzegužkalns-Park singt. Denn das Wort "saullēkts" (Sonnenaufgang) hörte ich immer wieder aus den mir sonst überwiegend unverständlichen Liedtexten heraus. Erschöpft lege ich mich schlafen und hoffe, dass sich meine Mühe gelohnt hat und in diesem Sommer nichts mehr schiefgeht...
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