Der Herbst setzt langsam ein in Riga,
die Blätter der Birken werden gelb, die Luft wird feuchter. Jacken
werden aus den Schränken geholt, die ersten Nebelschwaden ziehen
morgens auf. Nachmittags übernimmt dann die Sonne wieder die
Führung, sendet zärtliche Lichtstrahlen, bevor die Nacht bereits um
Acht hereinbricht...
Die fünfte
Jahreszeit ist auch eine Zeit der Poesie (wobei ich nicht behaupten
will, dass die Zeilen weiter oben Poesie sind), zumindest hier in
Riga, wo im September wie in den vergangenen Jahren die Poesietage
stattfinden, in Gedenken an Lettlands Nationaldichter Rainis
(offfiziell: Jānis Pliekšāns), der Goethes Faust ins
Lettische übersetzt und die Lettische Sprache (nicht nur dadurch,
aber auch) um einen großen Sprung nach vorne gebracht hat. Und weil
dieses Jahr Riga eine der beiden europäischen Kulturhauptstädte ist
(neben Umeå in Schweden), dauert das Festival
dieses Mal länger als sonst, nämlich fast drei Wochen. Darüber
hinaus finden die Lesungen, Konzerte, Buchvorstellungen teilweise an
neuen Orten statt, zum Beispiel in der kürzlich erst eröffneten
Nationalbibliothek. Es kamen und kommen auch ausländische Autoren zu
Wort, auch aus Deutschland, z. B. Eberhard Häfner, Alexander
Filyuta und Tom Schultz. Nicht zuletzt kommen auch russische Autoren,
die in Riga bzw. Lettland leben, zu Wort.
Spannend war das Projekt „Poetry Map
of Riga“, das im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms präsentiert
wurde. Es ging darum, auf künstlerische Art und Weise (also in Form
von allen möglichen Genres – sei es Musik,
Videos, Installationen und Performances, oder aber auch interaktive
Software oder Computer-Grafiken) eine ungewöhnliche Karte von
Riga anzufertigen, auf der die Vielfalt der „urbanen Phänomene“
in der Stadt dargestellt werden sollten: in den Straßen, den
Nachbarschaften, Häusern, Cafés, auf Kreuzungen, in Hinterhöfen,
und so weiter. Die Ergebnisse wurden in mehreren Ausstellungen
gezeigt, zuletzt in der ehemaligen Tabakfabrik, wo im Sommer auch
die Selbstportraits des „RIGA SELF/PORTRAITS“-Projekts gezeigt
wurden.
Ich muss gestehen: Es ist gerade so
viel los in Riga, dass ich an noch nicht einmal der Hälfte der
Veranstaltungen, die ich gerne besuchen würde, teilnehmen kann. Das
geht eigentlich schon die ganze Zeit so. Nebenbei gibt es ja auch
noch andere Aufgaben, zum Beispiel die Arbeit an meinem Buch, meinem
Projekt, etwa 25 bis 40 (Kurz-) Portraits über Menschen in Riga zu
schreiben, vor allem Menschen, die etwas Bestimmtes erreichen
möchten, Menschen, die engagiert sind. Eine Aufgabe, die größer
ist, als ich es erwartet habe, viel schwieriger, da man so viel
falsch machen kann, wenn man über Schicksale schreibt, über
Menschen, die so vieles Persönliches von sich preisgeben, wenn man
mit ihnen spricht...
Meine Zeit als Stadtschreiber geht in
zwei Wochen zuende. Schade eigentlich, sehr schade, denn es gäbe
noch so viel zu erzählen. Die Stadt, von der ich meinte, sie bereits
sehr gut zu kennen, hat mich überrascht. Sie hat mir mehrere
„Geheimnisse“ verraten, aber nur so viele, dass sie mich
neugierig gemacht hat, neugieriger als je zuvor. Zum Glück wird mich mein
„Projekt“ noch oft nach Riga bringen, mindestens bis
zum nächsten Sommer, das habe ich mir fest vorgenommen. Ich bin
sehr gespannt auf die Entwicklung der Menschen, auf deren Hoffnungen, vielleicht aber auch Enttäuschungen. Auf ihr Schicksal und wie sie damit umgehen, auf
ihren Mut und auf ihre Ängste.