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Montag, 25. August 2014

The Baltic Way


Vorgestern, am 23. August, feierte ganz Riga den 25. Jahrestag der über 600 Kilometer langen Menschenkette von Vilnius nahe der polnischen Grenze bis nach Tallinn nahe der finnischen Grenze. Dieses Ereignis ebnete den Weg der baltischen Staaten, um nach fast 50 Jahren sowjetischer Besatzung endlich wieder unabhängig zu werden.

Die Menschen demonstrierten damals gegen das geheime Zusatzprotokoll des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, das am 23. August 1939 unterzeichnet wurde und sich 1989 zum fünfzigsten Mal jährte. Mit diesem Abkommen wurde quasi das Ende der lettischen Unabhängigkeit besiegelt, denn die beiden Großmächte vereinbarten, dass Lettland von nun an zur sowjetischen Einflusssphäre gehören würde.

Nur eine Woche später begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall Deutschlands auf Polen, am 17. September überschritten auch die Sowjets die polnische Grenze, am fünften Oktober wurde die lettische Regierung gezwungen, ein Beistands- und Stützpunktabkommen zu unterzeichnen, am 31. Oktober wurde mit der Unterzeichnung des Umsiedelungsvertrages zwischen dem Deutschen Reich und Lettland die Geschichte der Deutschbalten in Lettland kurzerhand für beendet erklärt (die anschließend nach Deutschland oder in die eroberten Gebiete Polens umgesiedelt wurden), und am 17. Juni 1940 besetzten die sowjetischen Truppen Lettland.

Danach begannen die wohl schlimmsten Jahre der lettischen Geschichte, als die Sowjets im Juni 1941 ungefähr 15 000 Letten nach Sibirien deportierten und im März 1949 noch einmal 44 000 Letten (die Zahlen stammen vom Lettischen Institut). Vor diesem Hintergrund ist es durchaus nachvollziehbar, dass ein großer Teil der lettischen Bevölkerung froh war, als Nazi-Deutschland die Sowjetunion angriff und in Riga einmarschierte.

Die Geschichte ist brutal, und ich möchte an dieser Stelle gar nicht weiter ausführen, wie die Deutschen unter gütiger Mithilfe zahlloser lettischer Nazi-Kollaborateure über 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung ausrotteten, und wie nach dem erneuten Einmarsch der Sowjettruppen bestimmt 120 000 Letten die ungewisse Reise ins Exil antraten, meistens Richtung Deutschland, Schweden, Nordamerika und Brasilien.

Und nun diese Feierlichkeiten für diese grandiose Menschenkette, die es in dieser Art noch nie in Europa gegeben hat. Den Anfang machte eine internationale Konferenz am 21. und 22. August in den Räumen der Universität und des ehemaligen KGB-Hauses mit dem Namen „The Baltic Way“, bei der renommierte Wissenschaftler, Journalisten und Politiker über die Lehren diskutierten, die man aus den Geschehnissen der letzten 25 Jahre ziehen sollte. Die Veranstaltung wurde nicht nur von der Stiftung Riga 2014, sondern auch von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga mitorganisiert. Und so war es auch keine Überraschung, dass ein CDU-Politiker wie Norbert Lammert, der gegenwärtige Bundestagspräsident, die Eröffnungsrede hielt (neben weiteren Ansprachen). Zum Abschluss der zweitätigen Konferenz wurde im Innenhof des ehemaligen KGB-Gebäudes eine Gedenkveranstaltung an die Opfer des KGB Lettland abgehalten und einige Lichter vor der Gedenktafel an der Außenfassade des Gebäudes hingestellt.




Vorgestern, am 23. August, aber war ein Festtag, der Jubiläumstag, dessen Höhepunkt ein großes Konzert direkt am Freiheitsdenkmal war, mit dem Sinfonieorchester aus Libau (Liepāja) und Sängern aus allen baltischen Staaten. Und ich, ich war dabei, mittendrin, ein Teil des Ganzen – und fühlte mich irgendwie auch ein ganz kleines bisschen als Lette. Konnte zumindest nachempfinden, was diese Nation, die von so vielen Großmächten auf brutalste Weise ausgenutzt wurde, durchgemacht hat und immer noch durchmacht. Denn die Wunden sind noch lange nicht verheilt, die historischen Konflikte noch lange nicht Geschichte.

Natürlich wurden Reden gehalten, kurze Ansprachen, von Laimdota Straujuma, der lettischen Ministerpräsidentin, von Algirdas Butkevičius, dem litauischen Premierminister, und von Taavi Rõivas aus Estland. Viel mehr Applaus erhielt aber Dainis Īvāns, ein lettischer Journalist und Politiker, der im Jahr 1986 große Bekanntheit aufgrund seines energischen und letztendlich erfolgreichen Widerstandes gegen den Bau eines zweiten Staudamms auf der Düna (Daugava) bei Dünaburg (Daugavpils) erlangte. Er zählt zu den Gründern der Lettischen Volksfront (Latvijas Tautas fronte), die in Kooperation mit den Widerstandsbewegungen in Litauen und Estland gemeinsam die Menschenkette organisierte.

Emotionaler Höhepunkt der Feiern waren aber sicher die Lieder aus dem erfolgreichsten Musical der lettischen Musikgeschichte, der Rockoper „Lāčplēsis“ (von dem Komponisten Zigmars Liepiņš und der Dichterin Māra Zālīte), die Ende der 1980er Jahre ungeheuren Erfolg in Lettland hatte, sowie der Auftritt von dem legendären Igo mit der ebenso legendären Rockgruppe Remix, der damals die Hauptrolle des Bärentöters “Lāčplēsis“ gepielt und gesungen hatte. Das Publikum flippte aus, und wie 1989 gaben sich alle die Hand und bildeten auf engstem Raum eine lange, sehr lange Menschenkette. Gefühlt 600 Kilometer lang. Doch dann war die Show aus und alle gingen nach Haus, und aus der (russischsprachigen?) Diskothek gleich in der Nähe schlug wie schon die ganze Zeit der tiefe Bass einer Art „Musik“, deren Betreiber sich übrigens trotz einiger Bitten nicht dazu bringen ließen, diese etwas leiser abzuspielen.


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Mittwoch, 20. August 2014

Großer Friedhof

Friedhöfe sind nicht jedermanns Sache - verständlicherweise. Und dass es nicht leicht ist, sich dem Grab einer nahestehenden Person zu nähern, steht außer Frage. Nichtsdestotrotz sind es aber auch Orte, in denen Geschichte besonders intensiv erlebbar wird. So zum Beispiel auf dem Großen Friedhof (Lielie kapi) im Nordosten Rigas, der von 1773 bis 1944 die bevorzugte letzte Ruhestätte der Deutschbalten war. Etwa zwei Drittel der dort angelegten Grabstätten gehörten Deutschbalten.


Meine Wohnung befindet sich nur wenige Minuten von dort entfernt, und so ist es naheliegend, dass ich hin und wieder zwischen den alten Gruften, Kreuzen und gebrochenen Säulen spazieren gehe und, je nach Stimmung, meine Gedanken treiben lasse oder, und das kommt häufiger vor, sie zu ordnen versuche.

Seit Jahren wird dieses etwa 22 Hektar großes Gebiet, das der Evangelisch Lutherischen Gemeinde gehört, mehr oder weniger sich selbst überlassen. Umgekippte Grabsteine bleiben liegen und Familiengruften dienen als Unterschlupf für Obdachlose. Die Verwahrlosung begann schon in den Nachkriegsjahren, als viele Gräber geplündert oder zerstört wurden. Darüber hinaus entschied der Stadtrat in den 1960er Jahren, den Friedhof, der 1957 endgültig geschlossen worden war, in einen Park umzuwandeln. Daraufhin wurde ein großer Teil der Gräber entfernt.
 

Von einem gepflegten Park ist heute aber nicht viel zu erkennen, im Gegenteil, man muss nicht überrascht sein, wenn man zwischen den alten Ahorn-, Linden- und Eichenbäumen Relikte irgendwelcher Gräber entdeckt, und sei es nur ein abgebrochenes Teil eines Kreuzes oder eine Eisenstange eines alten Grabzaunes.

Meine Gedanken kreisen während meiner Spaziergänge oft um die Deutschbalten, die 1939 im Zuge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes innerhalb kürzester Zeit ihre Heimat verlassen und nach Deutschland oder in die eroberten Gebiete Polens übersiedeln mussten. Einer von Ihnen war zum Beispiel Wilhelm Bockslaff (1858-1945), der einer Rigenser Kaufmannsfamilie entstammte und zu einem der bedeutendsten Architekten Rigas avancierte. Von ihm stammen unter anderem die Entwürfe zum Wohnhaus der Großen Gilde, zur Kunstakademie (ehemals Börsen-Kommerzschule) und zur Jugendstilkirche in Dubulti (Dubbeln), einem Ortsteil von Jūrmala (Rigaer Strand). Er starb 1945 in Posen während eines Bombardements. Seine Grabstätte, ein Familiengrab, gehört zu den gepflegtesten Gräbern des Großen Friedhofs. Seine Nachkommen haben es restaurieren und seinen Namen nachträglich eingravieren lassen.

 

Die meisten Gräber sind heute aber verschwunden. Dort, wo nun im Frühling die Krokusse knospen, im Herbst die Blätterhaufen liegen und im Winter Kinder auf Schlitten von ihren Eltern auf winzige Hügel gezogen werden, lagen sie einst, die Deutschbalten, die über 700 Jahre lang die Geschicke der Stadt Riga bestimmt haben, und deren Nachfahren nun in ganz Deutschland verteilt leben. Viele von ihnen sind in deutschbaltischen Organisationen aktiv, doch nur wenige kommen zurück, um hier ein neues Leben anzufangen.

So gesehen wirkt ein Gang über den Großen Friedhof auf mich wie ein Spiegelbild der deutschbaltischen Kultur. Wie ein Kapitel, dass zugeschlagen wurde und nicht weitergeschrieben werden kann. Die Letten und die Russen, die heute die Mehrheit in der Stadt ausmachen, haben nur wenig Interesse an diesem Aspekt ihrer Vergangenheit. Der Vergangenheit ihrer Stadt. Aber vielleicht ändert sich das ja nochmal.







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