Friedhöfe sind nicht jedermanns Sache - verständlicherweise. Und dass es nicht leicht ist, sich dem Grab einer nahestehenden Person zu nähern, steht außer Frage. Nichtsdestotrotz sind es aber auch Orte, in denen Geschichte besonders intensiv erlebbar wird. So zum Beispiel auf dem Großen Friedhof (Lielie kapi) im Nordosten Rigas, der von 1773 bis 1944 die bevorzugte letzte Ruhestätte der Deutschbalten war. Etwa zwei Drittel der dort angelegten Grabstätten gehörten Deutschbalten.
Meine Wohnung befindet sich nur wenige Minuten von dort entfernt, und so ist es naheliegend, dass ich hin und wieder zwischen den alten Gruften, Kreuzen und gebrochenen Säulen spazieren gehe und, je nach Stimmung, meine Gedanken treiben lasse oder, und das kommt häufiger vor, sie zu ordnen versuche.
Seit Jahren wird dieses etwa 22 Hektar großes Gebiet, das der Evangelisch Lutherischen Gemeinde gehört, mehr oder weniger sich selbst überlassen. Umgekippte Grabsteine bleiben liegen und Familiengruften dienen als Unterschlupf für Obdachlose. Die Verwahrlosung begann schon in den Nachkriegsjahren, als viele Gräber geplündert oder zerstört wurden. Darüber hinaus entschied der Stadtrat in den 1960er Jahren, den Friedhof, der 1957 endgültig geschlossen worden war, in einen Park umzuwandeln. Daraufhin wurde ein großer Teil der Gräber entfernt.
Von einem gepflegten Park ist heute aber nicht viel zu erkennen, im Gegenteil, man muss nicht überrascht sein, wenn man zwischen den alten Ahorn-, Linden- und Eichenbäumen Relikte irgendwelcher Gräber entdeckt, und sei es nur ein abgebrochenes Teil eines Kreuzes oder eine Eisenstange eines alten Grabzaunes.
Meine Gedanken kreisen während meiner Spaziergänge oft um die Deutschbalten, die 1939 im Zuge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes innerhalb kürzester Zeit ihre Heimat verlassen und nach Deutschland oder in die eroberten Gebiete Polens übersiedeln mussten. Einer von Ihnen war zum Beispiel Wilhelm Bockslaff (1858-1945), der einer Rigenser Kaufmannsfamilie entstammte und zu einem der bedeutendsten Architekten Rigas avancierte. Von ihm stammen unter anderem die Entwürfe zum Wohnhaus der Großen Gilde, zur Kunstakademie (ehemals Börsen-Kommerzschule) und zur Jugendstilkirche in Dubulti (Dubbeln), einem Ortsteil von Jūrmala (Rigaer Strand). Er starb 1945 in Posen während eines Bombardements. Seine Grabstätte, ein Familiengrab, gehört zu den gepflegtesten Gräbern des Großen Friedhofs. Seine Nachkommen haben es restaurieren und seinen Namen nachträglich eingravieren lassen.
Die meisten Gräber sind heute aber verschwunden. Dort, wo nun im Frühling die Krokusse knospen, im Herbst die Blätterhaufen liegen und im Winter Kinder auf Schlitten von ihren Eltern auf winzige Hügel gezogen werden, lagen sie einst, die Deutschbalten, die über 700 Jahre lang die Geschicke der Stadt Riga bestimmt haben, und deren Nachfahren nun in ganz Deutschland verteilt leben. Viele von ihnen sind in deutschbaltischen Organisationen aktiv, doch nur wenige kommen zurück, um hier ein neues Leben anzufangen.
So gesehen wirkt ein Gang über den Großen Friedhof auf mich wie ein Spiegelbild der deutschbaltischen Kultur. Wie ein Kapitel, dass zugeschlagen wurde und nicht weitergeschrieben werden kann. Die Letten und die Russen, die heute die Mehrheit in der Stadt ausmachen, haben nur wenig Interesse an diesem Aspekt ihrer Vergangenheit. Der Vergangenheit ihrer Stadt. Aber vielleicht ändert sich das ja nochmal.
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