Die deutschbaltische Vergangenheit ist
immer noch in Lettland präsent – aber nicht nur die, auch die
Ereignisse während des ersten und zweiten Weltkrieges haben ihre
Spuren hinterlassen. Vor allem in Kurland (Kurzeme), einer der vier
historischen Provinzen Lettlands (neben Semgallen (Zemgale),
Zentral-Livland (Vidzeme) und Lettgallen (Latgale)), waren die Kämpfe
äußerst heftig, als Ende 1944 die deutsche Heeresgruppe Nord
(später Heeresgruppe Kurland) sowie die Luftwaffen- und
Marineeinheiten in Kurland eingeschlossen wurden. Und mittendrin
Letten, auf beiden Seiten, die als sogenannte „Freiwillige“
eingezogen worden waren (in den meisten Fällen natürlich gegen den
eigenen Willen).
Ein Tagesausflug mit einem Mietauto
führte mich kürzlich zur deutschen Kriegsgräberstätte im
südlichen Stadtgebiet von Jelgava (Mitau). Nach Angaben
des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., der in den
letzten 25 Jahren zahlreiche Kriegsgräberstätten in Lettland
wiederherstellen oder neu errichten hat lassen, liegen hier 1215
deutsche Gefallene aus dem Ersten Weltkrieg und etwa 200 Gefallene
aus dem Zweiten Weltkrieg. Insgesamt sollen auf dem Gebiet von
Lettland etwa 100 000 Kriegstote des Zweiten Weltkrieges an
etwa 6 600 Grablageorten liegen. Etwa 30 000 Soldaten sollen darüber
hinaus zwischen 1914 und 1918 gefallen sein – wohlgemerkt, nur
Soldaten der deutschen Armeen...
Im Stadtzentrum von Jelgava dann ein
ganz anderes Bild: Breit und mächtig erstreckt sich das Schloss
Jelgava (Schloss Mitau) auf einer Flussinsel der Lielupe
(Kurländische Aa), dem zweigrößten Fluss Lettlands. Herzog Ernst
Johann von Biron hatte es sich zwischen 1738-1772 von Bartolomeo
Francesco Rastrelli erbauen lassen, dem berühmten Bauherr einiger
Paläste in St. Petersburg. Dessen Dienste waren in der Zarenstadt
irgendwann nicht mehr gefragt, worauf er sich intensiver im
kurländischen Herzogtum betätigte. Das Schloss Jelgava ist übrigens
das größte Schloss des Baltikums.
Dass Herzog
Ernst Johann von Biron in seinen kurländischen Palästen kaum Zeit
verbrachte – für ihn hatte die russische Zarin Anna Iwanowna vor
dem Bau des Schlosses in Jelgava bereits das Schloss
Rundāle (Schloss Ruhenthal) erbauen lassen - als seinen
Sommersitz, spielte für Biron wohl kaum eine Rolle. Die längste
Zeit des Jahre verbrachte er sowieso in St. Petersburg, als Günstling
Anna Iwanownas und später mächtigster Mann im Russischen Reich,
allerdings nur bis zu dem Moment, als Zarin Anna Iwanowna das
Zeitliche segnete und er von seinen Feinden am Hof für 20 Jahre nach
Sibirien, später nach Jaroslawl verbannt wurde. Seine Schlösser
konnte er erst nach seiner Begnadigung und Wiedereinsetzung als
Herzog von Kurland 1762 wiedersehen, allerdings immer noch nicht im
fertigen Zustand. Und als die Bauarbeiten am Schloss Jelgava dann
1772 endlich für beendet erklärt worden waren, starb Ernst Johann
von Biron einen Monat später.
Zwischen Jelgava und Kandava (Kandau)
stieß ich auf der Suche nach dem Kriegsgräberfriedhof in Džūkste
auf ein interessantes Museum, das in einer ehemaligen Landschule
beheimatet ist. Es widmet sich in seiner Ausstellung dem Lehrer Ansis
Lerhis-Puškaitis (1859-1903), der in diesem
Gebäude von 1883 bis 1903 seine Schüler unterichtete, aber auch als
Schriftsteller und vor allem Sammler von lettischen Märchen und
Sagen tätig war. Bis heute gilt er mit seiner umfangreichen Sammlung
von ungefähr 6 000 Märchen als „Vater der lettischen Märchen“.
Der
Kriegsgräberfriedhof in Džūkste wurde am 14. Juni 1997 eingeweiht
und erinnert ausschließlich an die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg.
Zwischen den Grabsteinen der 416 Kriegstoten am östlichen Rand des
Zivilfriedhofes findet man übrigens auch zahlreiche Letten, die für
die Deutsche Wehrmacht kämpfen mussten. Und auch die Kirchenruine in
der Nähe bezeugt, wie brutal sich hier die verfeindeten Fronten
bekämpft haben müssen. Sie wurde von den Deutschen zerbombt, weil
die Sowjets von ihrem Turm aus sehen konnten, wo sich die Deutschen
gerade aufhielten.
Das Herrenhaus Kukšas (Kukšu muižā) in der zwischen Kandava und Tukums (Tuckum) wirkte nach solchen Eindrücken geradezu wie aus der Zeit gefallen. Perfekt wieder aufgebaut steht es da, idyllisch an einem kleinen See gelegen, von einem hübschen Garten umgeben. Hier hat sich der neue Hausherr, Hotelier und Koch Daniel Jahn wohl einen Lebenstraum erfüllt, als er das damals ziemlich heruntergekommene Herrenhaus Ende der 1990er Jahre einer älteren Dame abkaufen konnte. Mit viel Mühe hat er das Haus wieder detailgetreu hergerichtet und ein Hotel eröffnet, vor allem auf die aufwändig restaurierten Wandmalereien vom Ende des 18. Jh. ist der Hausherr stolz . Heute residieren in dem Hotel wohlbetuchte Gäste aus aller Welt, auch zahlreiche lettische Prominente.
Die Geschichte des
Hauses ist abwechslungsreich. Erstmals 1530 erwähnt, wurde es
mehrfach verkauft, bis es letztlich in die Hände der Familie von
Bötticher gelangte, die das Gut bis zur lettischen Landreform
1920-1922 besaß. Erwähnenswert ist, dass in diesem Haus auch die
Mutter des deutschbaltischen Schriftstellers Werner von Bergengrün –
Helene Anna Mathilde von Bötticher geboren worden. Sie heiratete
1889 Dr.med. Paul Emil von Bergengrün.
Der Rückweg nach
Riga führte über den verfallenen Kurort Ķemeri (Kemmern).
„Verfallen“ ist vielleicht übertrieben, doch angesichts der
Kontraste und der Möglichkeiten, die dieses kleine Städtchen hätte,
ist der Begriff in meinen Augen passend. Als in Ķemeri 1796
nämlich entdeckt wurde, dass das schwefelhaltige Quellwasser in der
Gegend und auch der Schlamm heilende Wirkung hätten (zur Behandlung
von Nervenerkrankungen, der Gelenke, Knochen und Muskeln),
entwickelte sich die Ortschaft nach und nach zu einem Heilort. Doch
so richtig wurde Ķemeri erst bekannt, als Nikolaus I. von Russland
es zum Kurort ernannte und das erste Badehaus errichtet wurde. Als
dann 1912 auch noch eine direkte Eisenbahnverbindung zwischen Moskau
und Ķemeri eröffnet und der nahegelegene Strand von Jaunķemeri
durch eine Straßenbahn leicht erreichbar wurde, stieg die Ortschaft
endgültig zu einer der beliebtesten Adressen der nordosteuropäischen
High Society auf. Nach Zerstörungen während des Ersten Weltkrieges
wurde von der nun unabhängigen Republik Lettland viel Geld
investiert und mehrere neue Gebäude erbaut, unter anderem das in
den 1930er Jahren nach Entwürfen von Eižens Laube errichtete Hotel mit
dem Spitznamen „Weißes Schiff“.
Doch die Zeit war
schneller und der Zweite Weltkrieg zermalmte das kleine Land zwischen
den Großmächten. Danach blieb nichts mehr, als die neu errichteten
Häuser mitsamt dem idyllischen Park mit seinen romantischen Brücken
und einem Teepavillon dem sowjetischen Verfall preiszugeben. Als
Lettland dann zum Zweiten Mal unabhängig wurde, dauerte es nicht
lange und die West-Investoren standen vor der Tür, mit
hoffnungsvollen Aussichten. Das Riesenhotel wurde angeblich von der
Kempinsky-Gruppe gekauft und gründlich restauriert. Doch dann... die
Entwicklung des Ortes, ja, des ganzen Landes, blieb stehen. Die
reichen Russen stürzten und stürzen sich nach wie vor nur auf das
mittlerweile ziemlich schicke Jūrmala (Rigaer Strand). Doch nach
Ķemeri, eigentlich nicht weit von Jūrmala entfernt, will keiner
mehr.
Das „Weiße
Schiff“, das große Badehaus, der Wasserturm, der Teepavillon und
die schönen Brücken sind vermutlich noch jahrzentelang dem Verfall
preisgegeben. Und die Kempinsky-Gruppe verbucht ihr Hotel vermutlich
einfach nur als Fehlinvestition und setzt diese von den Steuern ab.
Irgendwann wird schon jemand kommen, der es kaufen wird. Die Preise
gehen in Lettland ja nicht mehr runter.
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