Montag, 25. August 2014

The Baltic Way


Vorgestern, am 23. August, feierte ganz Riga den 25. Jahrestag der über 600 Kilometer langen Menschenkette von Vilnius nahe der polnischen Grenze bis nach Tallinn nahe der finnischen Grenze. Dieses Ereignis ebnete den Weg der baltischen Staaten, um nach fast 50 Jahren sowjetischer Besatzung endlich wieder unabhängig zu werden.

Die Menschen demonstrierten damals gegen das geheime Zusatzprotokoll des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, das am 23. August 1939 unterzeichnet wurde und sich 1989 zum fünfzigsten Mal jährte. Mit diesem Abkommen wurde quasi das Ende der lettischen Unabhängigkeit besiegelt, denn die beiden Großmächte vereinbarten, dass Lettland von nun an zur sowjetischen Einflusssphäre gehören würde.

Nur eine Woche später begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall Deutschlands auf Polen, am 17. September überschritten auch die Sowjets die polnische Grenze, am fünften Oktober wurde die lettische Regierung gezwungen, ein Beistands- und Stützpunktabkommen zu unterzeichnen, am 31. Oktober wurde mit der Unterzeichnung des Umsiedelungsvertrages zwischen dem Deutschen Reich und Lettland die Geschichte der Deutschbalten in Lettland kurzerhand für beendet erklärt (die anschließend nach Deutschland oder in die eroberten Gebiete Polens umgesiedelt wurden), und am 17. Juni 1940 besetzten die sowjetischen Truppen Lettland.

Danach begannen die wohl schlimmsten Jahre der lettischen Geschichte, als die Sowjets im Juni 1941 ungefähr 15 000 Letten nach Sibirien deportierten und im März 1949 noch einmal 44 000 Letten (die Zahlen stammen vom Lettischen Institut). Vor diesem Hintergrund ist es durchaus nachvollziehbar, dass ein großer Teil der lettischen Bevölkerung froh war, als Nazi-Deutschland die Sowjetunion angriff und in Riga einmarschierte.

Die Geschichte ist brutal, und ich möchte an dieser Stelle gar nicht weiter ausführen, wie die Deutschen unter gütiger Mithilfe zahlloser lettischer Nazi-Kollaborateure über 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung ausrotteten, und wie nach dem erneuten Einmarsch der Sowjettruppen bestimmt 120 000 Letten die ungewisse Reise ins Exil antraten, meistens Richtung Deutschland, Schweden, Nordamerika und Brasilien.

Und nun diese Feierlichkeiten für diese grandiose Menschenkette, die es in dieser Art noch nie in Europa gegeben hat. Den Anfang machte eine internationale Konferenz am 21. und 22. August in den Räumen der Universität und des ehemaligen KGB-Hauses mit dem Namen „The Baltic Way“, bei der renommierte Wissenschaftler, Journalisten und Politiker über die Lehren diskutierten, die man aus den Geschehnissen der letzten 25 Jahre ziehen sollte. Die Veranstaltung wurde nicht nur von der Stiftung Riga 2014, sondern auch von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga mitorganisiert. Und so war es auch keine Überraschung, dass ein CDU-Politiker wie Norbert Lammert, der gegenwärtige Bundestagspräsident, die Eröffnungsrede hielt (neben weiteren Ansprachen). Zum Abschluss der zweitätigen Konferenz wurde im Innenhof des ehemaligen KGB-Gebäudes eine Gedenkveranstaltung an die Opfer des KGB Lettland abgehalten und einige Lichter vor der Gedenktafel an der Außenfassade des Gebäudes hingestellt.




Vorgestern, am 23. August, aber war ein Festtag, der Jubiläumstag, dessen Höhepunkt ein großes Konzert direkt am Freiheitsdenkmal war, mit dem Sinfonieorchester aus Libau (Liepāja) und Sängern aus allen baltischen Staaten. Und ich, ich war dabei, mittendrin, ein Teil des Ganzen – und fühlte mich irgendwie auch ein ganz kleines bisschen als Lette. Konnte zumindest nachempfinden, was diese Nation, die von so vielen Großmächten auf brutalste Weise ausgenutzt wurde, durchgemacht hat und immer noch durchmacht. Denn die Wunden sind noch lange nicht verheilt, die historischen Konflikte noch lange nicht Geschichte.

Natürlich wurden Reden gehalten, kurze Ansprachen, von Laimdota Straujuma, der lettischen Ministerpräsidentin, von Algirdas Butkevičius, dem litauischen Premierminister, und von Taavi Rõivas aus Estland. Viel mehr Applaus erhielt aber Dainis Īvāns, ein lettischer Journalist und Politiker, der im Jahr 1986 große Bekanntheit aufgrund seines energischen und letztendlich erfolgreichen Widerstandes gegen den Bau eines zweiten Staudamms auf der Düna (Daugava) bei Dünaburg (Daugavpils) erlangte. Er zählt zu den Gründern der Lettischen Volksfront (Latvijas Tautas fronte), die in Kooperation mit den Widerstandsbewegungen in Litauen und Estland gemeinsam die Menschenkette organisierte.

Emotionaler Höhepunkt der Feiern waren aber sicher die Lieder aus dem erfolgreichsten Musical der lettischen Musikgeschichte, der Rockoper „Lāčplēsis“ (von dem Komponisten Zigmars Liepiņš und der Dichterin Māra Zālīte), die Ende der 1980er Jahre ungeheuren Erfolg in Lettland hatte, sowie der Auftritt von dem legendären Igo mit der ebenso legendären Rockgruppe Remix, der damals die Hauptrolle des Bärentöters “Lāčplēsis“ gepielt und gesungen hatte. Das Publikum flippte aus, und wie 1989 gaben sich alle die Hand und bildeten auf engstem Raum eine lange, sehr lange Menschenkette. Gefühlt 600 Kilometer lang. Doch dann war die Show aus und alle gingen nach Haus, und aus der (russischsprachigen?) Diskothek gleich in der Nähe schlug wie schon die ganze Zeit der tiefe Bass einer Art „Musik“, deren Betreiber sich übrigens trotz einiger Bitten nicht dazu bringen ließen, diese etwas leiser abzuspielen.


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Mittwoch, 20. August 2014

Großer Friedhof

Friedhöfe sind nicht jedermanns Sache - verständlicherweise. Und dass es nicht leicht ist, sich dem Grab einer nahestehenden Person zu nähern, steht außer Frage. Nichtsdestotrotz sind es aber auch Orte, in denen Geschichte besonders intensiv erlebbar wird. So zum Beispiel auf dem Großen Friedhof (Lielie kapi) im Nordosten Rigas, der von 1773 bis 1944 die bevorzugte letzte Ruhestätte der Deutschbalten war. Etwa zwei Drittel der dort angelegten Grabstätten gehörten Deutschbalten.


Meine Wohnung befindet sich nur wenige Minuten von dort entfernt, und so ist es naheliegend, dass ich hin und wieder zwischen den alten Gruften, Kreuzen und gebrochenen Säulen spazieren gehe und, je nach Stimmung, meine Gedanken treiben lasse oder, und das kommt häufiger vor, sie zu ordnen versuche.

Seit Jahren wird dieses etwa 22 Hektar großes Gebiet, das der Evangelisch Lutherischen Gemeinde gehört, mehr oder weniger sich selbst überlassen. Umgekippte Grabsteine bleiben liegen und Familiengruften dienen als Unterschlupf für Obdachlose. Die Verwahrlosung begann schon in den Nachkriegsjahren, als viele Gräber geplündert oder zerstört wurden. Darüber hinaus entschied der Stadtrat in den 1960er Jahren, den Friedhof, der 1957 endgültig geschlossen worden war, in einen Park umzuwandeln. Daraufhin wurde ein großer Teil der Gräber entfernt.
 

Von einem gepflegten Park ist heute aber nicht viel zu erkennen, im Gegenteil, man muss nicht überrascht sein, wenn man zwischen den alten Ahorn-, Linden- und Eichenbäumen Relikte irgendwelcher Gräber entdeckt, und sei es nur ein abgebrochenes Teil eines Kreuzes oder eine Eisenstange eines alten Grabzaunes.

Meine Gedanken kreisen während meiner Spaziergänge oft um die Deutschbalten, die 1939 im Zuge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes innerhalb kürzester Zeit ihre Heimat verlassen und nach Deutschland oder in die eroberten Gebiete Polens übersiedeln mussten. Einer von Ihnen war zum Beispiel Wilhelm Bockslaff (1858-1945), der einer Rigenser Kaufmannsfamilie entstammte und zu einem der bedeutendsten Architekten Rigas avancierte. Von ihm stammen unter anderem die Entwürfe zum Wohnhaus der Großen Gilde, zur Kunstakademie (ehemals Börsen-Kommerzschule) und zur Jugendstilkirche in Dubulti (Dubbeln), einem Ortsteil von Jūrmala (Rigaer Strand). Er starb 1945 in Posen während eines Bombardements. Seine Grabstätte, ein Familiengrab, gehört zu den gepflegtesten Gräbern des Großen Friedhofs. Seine Nachkommen haben es restaurieren und seinen Namen nachträglich eingravieren lassen.

 

Die meisten Gräber sind heute aber verschwunden. Dort, wo nun im Frühling die Krokusse knospen, im Herbst die Blätterhaufen liegen und im Winter Kinder auf Schlitten von ihren Eltern auf winzige Hügel gezogen werden, lagen sie einst, die Deutschbalten, die über 700 Jahre lang die Geschicke der Stadt Riga bestimmt haben, und deren Nachfahren nun in ganz Deutschland verteilt leben. Viele von ihnen sind in deutschbaltischen Organisationen aktiv, doch nur wenige kommen zurück, um hier ein neues Leben anzufangen.

So gesehen wirkt ein Gang über den Großen Friedhof auf mich wie ein Spiegelbild der deutschbaltischen Kultur. Wie ein Kapitel, dass zugeschlagen wurde und nicht weitergeschrieben werden kann. Die Letten und die Russen, die heute die Mehrheit in der Stadt ausmachen, haben nur wenig Interesse an diesem Aspekt ihrer Vergangenheit. Der Vergangenheit ihrer Stadt. Aber vielleicht ändert sich das ja nochmal.







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Mittwoch, 13. August 2014

Kultur ist...

Die meisten gehen vorbei, kaum einer beachtet sie: Die nette Aufkleberaktion der Stiftung Riga2014 mit der Frage, was für die Rigenser bzw. Riga-Besucher denn Kultur sei, ist passenderweise im Kulturpavillon im Esplanade-Park zu einer recht großen "Klebefläche" angewachsen. 

Wenn man die Antworten betrachtet, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass für jeden Kultur etwas anderes ist, oder Kultur alles, oder Kultur von allem etwas...

Und im Vergleich zum anspruchsvollen Kulturhauptstadtprogramm, das ja offiziell unter der großen Überschrift "Force Majeure" (höhere Gewalt) steht, sind die meisten Vorschläge auf den Aufklebern..., ach, wozu viel reden bzw. schreiben, manchmal stehen die Dinge besser für sich...


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Montag, 11. August 2014

ReReRiga?

Das ganze Wochenende über habe ich nachgedacht. Laut und leise. Über den Sinn des Wortes "ReReRiga". Was mag das wohl bedeuten, grübelte ich. Hat das vielleicht mit "Retro" zu tun?. Oder ist das einfach nur ein lettisches Wort? Nein. Der Google Übersetzer antwortete auf meine Antrage immer nur mit einem Echo. Egal.

Dass heißt, eigentlich nicht egal, überhaupt nicht. Es geht hier nämlich um ein "worldmusic" und "streetart festival" mit eben diesem phonetisch durchaus klangvollen und irgendwie magische Momente versprechenden Namen. Magisch. Das könnte hinhauen. Denn "streetart" und "worldmusic" kann ja durchaus schon mal extrem beeindruckend sein.

BRAM GRAAFLAND (Niederlande), Foto: Mārtiņš Otto, Rīga 2014
 Es ist wahrscheinlich der Überraschungseffekt, der eintritt, wenn man nichtsahnend durch die Straßen geht, mit einem wichtigen oder unwichtigen Ziel vor Augen (oder keines von beiden), und man urplötzlich hinter der nächsten Ecke von wilder Pantomime, riskanter Akrobatik oder heiseren Stimmen "heimgesucht" wird, die einen irgendwie nicht weitergehen lassen wollen, weil man wissen will, was als nächstes passiert.

Mir zumindest ging es schon oft so. Zum Beispiel kann ich mich an zwei Männer erinnern, die am Londoner Piccadilly Circus unfassbar gut auf zwei primitiven Plastikeimern trommelten, so dass ich alles darüber vergass, jeglichen Plan, sofern es einen gab, über den Haufen warf, und bis zum Ende stehen blieb, sogar dann noch, als die beiden Männer ihren Verdienst eingesammelt hatten und unvermittelt weggegangen waren.

COMPAGNIE MOBIL (Niederlande), Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
Doch zurück nach Riga. Da fand nämlich am vergangenen Wochenende zum zweiten Mal überhaupt eben jenes "streetart and worldmusic festival" statt. Es ist nach eigener Aussage das größte Festival seiner Art im Baltikum - und das schon im zweiten Jahr seines Bestehens - was irgendwie darauf hindeutet, dass es kein weiteres, oder, wenn überhaupt, nur ein kleines ähnliches Festival zwischen Tallinn und Vilnius gibt, was wiederum darauf hindeutet, dass Straßentheater und Weltmusik bislang noch keine besondere Bedeutung in den baltischen Ländern zu haben scheinen.

Mir persönlich ist diese "Kunstgattung" ja schon öfter mal begegnet - oder ich ihr - vor allem in Frankreich, in Avignon, während des Theaterfestivals, wo es ja neben dem offiziellen Programm ja auch noch ein Off-Programm und darüber hinaus auch noch ein inoffizielles Straßentheaterfestival gibt.

CIRKA TEATER/AUSEKLĪTIS  (Norwegen/Lettland), Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
"Streetart" und "Worldmusic" nun aber hier in Riga zu erleben, war für mich etwas Seltsames. Da stießen in meinen Augen die Straßenkünstler der westlichen Welt mit ihrem mehr oder weniger unausgesprochenen Protest gegen alles Großbürgerliche auf ein Publikum aus einer Stadt, in der es meiner Meinung nach noch keine besonders gut entwickelte "Bürgergesellschaft" gibt.Viele Menschen nehmen die Dinge einfach hin, wie sie sind. Nur wenige glauben daran, etwas verändern zu können. So nehme ich das zumindest derzeit wahr.

Aber vielleicht ist dieses Festival ja auch ein Zeichen dafür, dass sich da etwas entwickelt. Das könnte schon sein. Übrigens weiß ich nun auch, was ReReRiga bedeutet. Es ist der Name einer lettischen Baufirma. Na sowas.
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Samstag, 9. August 2014

Schnitzel "Sigulda"

Es gibt in Riga durchaus noch eine ganze Menge Relikte aus der sowjetischen Vergangenheit, als Lettland noch "Lettische Sozialistische Sowjetrepublik" hieß. Da ist nicht nur die Akademie der Wissenschaften, einem Hochhausbau im "Stalinistischen Zuckerbäckerstil" aus den 1950er Jahren oder die unzähligen Plattenbauten in den Vorstädten, nicht zu vergessen der "Schwarze Sarg", der ursprünglich als Museum für die Lettischen Schützen gebaut wurde und heute Heimat des Okkupationsmuseums ist, und natürlich das Denkmal für die Lettischen Schützen, das nach wie vor auf dem gleichnamigen Platz steht. 

Das ist natürlich noch lange nicht alles, was man in Riga an sowjetischem "Kulturerbe" entdecken kann. Und dass es zu diesem Thema mittlerweile auch Stadtführungen gibt, war mir bewusst. Mir war auch bekannt, dass in Liepāja (Libau) Exkursionen zum Thema "Sowjetische Gefängnisse" angeboten werden, während der man zwischendurch auch mal in eine Gefängnisszelle gesperrt wird und von einem als Gefängniswärter verkleideten Guide rüde angeschrien wird. Es lässt sich sicher darüber streiten, ob diese Art von "lebendiger Geschichtserfahrung" wirklich Sinn macht.

Was ich aber neulich in Sigulda entdeckte, kannte ich bisher in Lettland noch nicht. Direkt neben dem Museumspark Turaida lädt in einem völlig unrenovierten Sowjetbau eine Kantine zu Mahlzeiten wie zu Sowjetzeiten ein, inklusive Miniausstellung zum Thema Esskultur in der Sowjetunion. Das machte mich neugierig. Das war ja fast wie Ende der neunziger Jahre, als ich das erste Mal Lettland bereiste und moderne Restaurants noch nicht besonders oft aufzufinden waren. Die Preise waren damals demenstsprechend niedrig. Doch nun, welch Überraschung: Ein Essen, über dessen Geschmack ich lieber keine Worte verlieren möchte, und das für einen höheren Betrag als man für so ein Menü in anderen modernen Bistros zahlen würde. Eine Geschäftsidee also, mehr nicht, und ich bin auch noch drauf reingefallen.









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Freitag, 8. August 2014

In der Livländischen Schweiz

Rund 50 Kilometer nordöstlich von Riga erstreckt sich Lettlands größter, ältester und beliebtester Nationalpark, der Gauja-Nationalpark. Durch ihn fließt der Fluss, nach dem der Park benannt ist, die Gauja, die hier von hohen Felswänden aus rotem Sandstein aus dem Devon umgeben ist. Insgesamt knapp 500 Kilometer legt die Gauja auf lettischem Territorium zurück, bevor sie bei Carnikava in den Rigaischen Meerbusen mündet. 

Bereits kurz nach der Gründung von Riga im Jahre 1201 waren die deutschen Eroberer bestrebt, ihren Einfluss auf dem heutigen lettischen Gebiet zu erweitern. Eine wichtige Rolle spielte dabei natürlich auch die Gauja, und da ist es nicht verwunderlich, dass man bei einem Besuch in Sigulda (Segewold), neben Cēsis die größte Stadt auf dem Gebiet des Nationalparks, auf gleich drei Burgruinen stößt, und zwar den mehr oder weniger gut erhaltenen Überresten der Burgen Sigulda, Krimulda und Turaida.
Blick vom Burgturm
Eine dieser Burgen, die Burg Turaida (sie ist am besten erhalten), feierte vor wenigen Tagen ihren 800. Geburtstag. Natürlich wurde ein wenig gefeiert, wenn auch nicht überschwänglich, und da die Feierlichkeiten zeitgleich mit den alljährlichen Opernfestspielen von Sigulda stattfanden, machte ich mich (nicht zum ersten Mal) auf den Weg dorthin.

Von den Bewohnern dieser beschaulichen und im Vergleich zu anderen Städten dieser Größenordnung in Lettland recht wohlhabenden Kleinstadt kriegt man zwischen dem renovierten Hauptbahnhof und den zahlreichen Sehenswürdigkeiten nicht viel mit. Die Mehrzahl wohnt entweder zwischen Bahntrasse und der Schnellstraße, die Sigulda mit Riga verbindet, oder jenseits der Schnellstraße. Hier ist alles auf den Tourismus ausgerichtet, und das schon seit über hundert Jahren, als im Jahr 1889 die Bahnlinie zwischen Riga und Valka eröffnet wurde. Im Gegensatz zu Ķemeri (Kemmern) entwickelte sich Sigulda mit Beginn der lettischen Unabhängigkeit 1990 sehr gut, neben Ventspils (Windau) und Jūrmala (Rigastrand) zählt sie sicher zu den gepflegtesten Städten in Lettland.

Burg Turaida
Um zur Burg Turaida zu gelangen, muss man einen Bus nehmen, es sei denn, man ist mit mit einem Auto, Fahrrad, Motorrad oder dergleichen unterwegs. Zu Fuß dauert der „Anmarsch“ sicher eine gute halbe Stunde, schließlich muss man, an der Burgruine Sigulda vorbei, zuerst ins Tal der Gauja hinablaufen, dort eine Brücke überqueren, dann an der Gutmannshöhle vorbeilaufen, um dann nach einem längeren Anstieg endlich das Museumsreservat Turaida zu erreichen. Alternativ könnte die Seilbahn nehmen, die beide Ufer miteinander verbindet. Übrigens wird die Gegend um Sigulda aufgrund ihrer leicht hügeligen Landschaft auch als Lettische oder Livländische Schweiz bezeichnet.  
Warum eigentlich Museumsreservat? Die Burg Turaida war recht lange bewohnt, bis ins 17. Jahrhundert hinein, doch dann verlor die Burg an militärischer Bedeutung und das Gelände ging in Privatbesitz über, an Gotthard Wilhelm von Budberg. Von dieser Zeit zeugen unter anderem eine der ältesten lettischen Holzkirchen von 1750 und zwei Holzhäuser des Gutsverwalters. Darüber hinaus ist auf dem Gelände aber auch noch der sogenannte Volksliederberg angelegt, also ein Skulpturengarten, der dem Vater der lettischen Volkslieder (Dainas), Krišjānis Barons, gewidmet ist. Hier und auf den umliegenden Wiesen findet übrigens am 23. Juni jeden Jahres eine der größten und schönsten Ligo-Feste (Mitsommernacht) in Lettland statt.

Burg Sigulda
Die Burg Turaida ist zum Teil rekonstruiert worden, mehrere Ausstellungen informieren über die Geschichte der Burg. Früher stand an der gleichen Stelle eine Holzburg der Liven, deren Fürst, Kaupo, der angeblich erste Fürst eines livischen, kurischen oder anderen Stammes auf dem Gebiet des heutigen Lettland und Estland gewesen sein soll, der zum christlichen Glauben übergetreten ist. Nach der Rückkehr von einer Reise nach Rom, wo er von Albert von Buxthoeven, dem Bischof von Riga, Papst Innozenz III. vorgestellt worden war, erhob sich sein eigener Stamm gegen ihn, woraufhin er sich endgültig auf die Seite der christlichen Eroberer schlug, die die Holzburg 1212 zerstörten und zwei Jahre später die in ihren Grundzügen noch heute erhaltene Burganlage errichteten.

Warum etwas weiter südlich Mitte des 13. Jh. dann auch noch die Burg Krimulda errichtet wurde, ist mir bis heute nicht verständlich, auf jeden Fall gehörten beide zum Erzbistum Riga, während die Burg Sigulda (Segewold) auf der linken Seite der Gauja im Besitz des Schwertbrüderorden war (später Livländischer Orden). 

Neues Schloss in Sigulda
In den wenigen Überresten der Burg Sigulda treten nun schon seit über 20 Jahren Anfang August in- und ausländische Sänger im Rahmen von Galakonzerten oder Freilicht-Opernaufführungen auf. Am Abend meines Besuchs wurde „Carmen“ von Georges Bizet aufgeführt. Aber was spielt die Musik schon für eine Rolle bei so einem Event. Die Opernfestspiele in Sigulda sind ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis in Lettland...

Nicht ohne Grund ist Sigulda die Partnerstadt von Riga im Kulturhauptstadtjahr 2014. Und so fanden und finden im Laufe des Jahres zahlreiche zusätzliche Veranstaltungen statt, wie beispielsweise ein spektakuläres Naturkonzert vor der Gutmannshöhle. Morgen. Samstag. Ein guter Grund, erneut nach Sigulda zu fahren.
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Samstag, 2. August 2014

Spurensuche auf dem Lande

Die deutschbaltische Vergangenheit ist immer noch in Lettland präsent – aber nicht nur die, auch die Ereignisse während des ersten und zweiten Weltkrieges haben ihre Spuren hinterlassen. Vor allem in Kurland (Kurzeme), einer der vier historischen Provinzen Lettlands (neben Semgallen (Zemgale), Zentral-Livland (Vidzeme) und Lettgallen (Latgale)), waren die Kämpfe äußerst heftig, als Ende 1944 die deutsche Heeresgruppe Nord (später Heeresgruppe Kurland) sowie die Luftwaffen- und Marineeinheiten in Kurland eingeschlossen wurden. Und mittendrin Letten, auf beiden Seiten, die als sogenannte „Freiwillige“ eingezogen worden waren (in den meisten Fällen natürlich gegen den eigenen Willen).

Ein Tagesausflug mit einem Mietauto führte mich kürzlich zur deutschen Kriegsgräberstätte im südlichen Stadtgebiet von Jelgava (Mitau). Nach Angaben des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., der in den letzten 25 Jahren zahlreiche Kriegsgräberstätten in Lettland wiederherstellen oder neu errichten hat lassen, liegen hier 1215 deutsche Gefallene aus dem Ersten Weltkrieg und etwa 200 Gefallene aus dem Zweiten Weltkrieg. Insgesamt sollen auf dem Gebiet von Lettland etwa 100 000 Kriegstote des Zweiten Weltkrieges an etwa 6 600 Grablageorten liegen. Etwa 30 000 Soldaten sollen darüber hinaus zwischen 1914 und 1918 gefallen sein – wohlgemerkt, nur Soldaten der deutschen Armeen...

Im Stadtzentrum von Jelgava dann ein ganz anderes Bild: Breit und mächtig erstreckt sich das Schloss Jelgava (Schloss Mitau) auf einer Flussinsel der Lielupe (Kurländische Aa), dem zweigrößten Fluss Lettlands. Herzog Ernst Johann von Biron hatte es sich zwischen 1738-1772 von Bartolomeo Francesco Rastrelli erbauen lassen, dem berühmten Bauherr einiger Paläste in St. Petersburg. Dessen Dienste waren in der Zarenstadt irgendwann nicht mehr gefragt, worauf er sich intensiver im kurländischen Herzogtum betätigte. Das Schloss Jelgava ist übrigens das größte Schloss des Baltikums.


Dass Herzog Ernst Johann von Biron in seinen kurländischen Palästen kaum Zeit verbrachte – für ihn hatte die russische Zarin Anna Iwanowna vor dem Bau des Schlosses in Jelgava bereits das Schloss Rundāle (Schloss Ruhenthal) erbauen lassen - als seinen Sommersitz, spielte für Biron wohl kaum eine Rolle. Die längste Zeit des Jahre verbrachte er sowieso in St. Petersburg, als Günstling Anna Iwanownas und später mächtigster Mann im Russischen Reich, allerdings nur bis zu dem Moment, als Zarin Anna Iwanowna das Zeitliche segnete und er von seinen Feinden am Hof für 20 Jahre nach Sibirien, später nach Jaroslawl verbannt wurde. Seine Schlösser konnte er erst nach seiner Begnadigung und Wiedereinsetzung als Herzog von Kurland 1762 wiedersehen, allerdings immer noch nicht im fertigen Zustand. Und als die Bauarbeiten am Schloss Jelgava dann 1772 endlich für beendet erklärt worden waren, starb Ernst Johann von Biron einen Monat später. 


Zwischen Jelgava und Kandava (Kandau) stieß ich auf der Suche nach dem Kriegsgräberfriedhof in Džūkste auf ein interessantes Museum, das in einer ehemaligen Landschule beheimatet ist. Es widmet sich in seiner Ausstellung dem Lehrer Ansis Lerhis-Puškaitis (1859-1903), der in diesem Gebäude von 1883 bis 1903 seine Schüler unterichtete, aber auch als Schriftsteller und vor allem Sammler von lettischen Märchen und Sagen tätig war. Bis heute gilt er mit seiner umfangreichen Sammlung von ungefähr 6 000 Märchen als „Vater der lettischen Märchen“. 

Der Kriegsgräberfriedhof in Džūkste wurde am 14. Juni 1997 eingeweiht und erinnert ausschließlich an die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg. Zwischen den Grabsteinen der 416 Kriegstoten am östlichen Rand des Zivilfriedhofes findet man übrigens auch zahlreiche Letten, die für die Deutsche Wehrmacht kämpfen mussten. Und auch die Kirchenruine in der Nähe bezeugt, wie brutal sich hier die verfeindeten Fronten bekämpft haben müssen. Sie wurde von den Deutschen zerbombt, weil die Sowjets von ihrem Turm aus sehen konnten, wo sich die Deutschen gerade aufhielten.


Das Herrenhaus Kukšas (Kukšu muižā) in der zwischen Kandava und Tukums (Tuckum) wirkte nach solchen Eindrücken geradezu wie aus der Zeit gefallen. Perfekt wieder aufgebaut steht es da, idyllisch an einem kleinen See gelegen, von einem hübschen Garten umgeben. Hier hat sich der neue Hausherr, Hotelier und Koch Daniel Jahn wohl einen Lebenstraum erfüllt, als er das damals ziemlich heruntergekommene Herrenhaus Ende der 1990er Jahre einer älteren Dame abkaufen konnte. Mit viel Mühe hat er das Haus wieder detailgetreu hergerichtet und ein Hotel eröffnet, vor allem auf die aufwändig restaurierten Wandmalereien vom Ende des 18. Jh. ist der Hausherr stolz . Heute residieren in dem Hotel wohlbetuchte Gäste aus aller Welt, auch zahlreiche lettische Prominente.


Die Geschichte des Hauses ist abwechslungsreich. Erstmals 1530 erwähnt, wurde es mehrfach verkauft, bis es letztlich in die Hände der Familie von Bötticher gelangte, die das Gut bis zur lettischen Landreform 1920-1922 besaß. Erwähnenswert ist, dass in diesem Haus auch die Mutter des deutschbaltischen Schriftstellers Werner von Bergengrün – Helene Anna Mathilde von Bötticher geboren worden. Sie heiratete 1889 Dr.med. Paul Emil von Bergengrün.

Der Rückweg nach Riga führte über den verfallenen Kurort Ķemeri (Kemmern). „Verfallen“ ist vielleicht übertrieben, doch angesichts der Kontraste und der Möglichkeiten, die dieses kleine Städtchen hätte, ist der Begriff in meinen Augen passend. Als in Ķemeri 1796 nämlich entdeckt wurde, dass das schwefelhaltige Quellwasser in der Gegend und auch der Schlamm heilende Wirkung hätten (zur Behandlung von Nervenerkrankungen, der Gelenke, Knochen und Muskeln), entwickelte sich die Ortschaft nach und nach zu einem Heilort. Doch so richtig wurde Ķemeri erst bekannt, als Nikolaus I. von Russland es zum Kurort ernannte und das erste Badehaus errichtet wurde. Als dann 1912 auch noch eine direkte Eisenbahnverbindung zwischen Moskau und Ķemeri eröffnet und der nahegelegene Strand von Jaunķemeri durch eine Straßenbahn leicht erreichbar wurde, stieg die Ortschaft endgültig zu einer der beliebtesten Adressen der nordosteuropäischen High Society auf. Nach Zerstörungen während des Ersten Weltkrieges wurde von der nun unabhängigen Republik Lettland viel Geld investiert und mehrere neue Gebäude erbaut, unter anderem das in den 1930er Jahren nach Entwürfen von Eižens Laube errichtete Hotel mit dem Spitznamen „Weißes Schiff“. 


Doch die Zeit war schneller und der Zweite Weltkrieg zermalmte das kleine Land zwischen den Großmächten. Danach blieb nichts mehr, als die neu errichteten Häuser mitsamt dem idyllischen Park mit seinen romantischen Brücken und einem Teepavillon dem sowjetischen Verfall preiszugeben. Als Lettland dann zum Zweiten Mal unabhängig wurde, dauerte es nicht lange und die West-Investoren standen vor der Tür, mit hoffnungsvollen Aussichten. Das Riesenhotel wurde angeblich von der Kempinsky-Gruppe gekauft und gründlich restauriert. Doch dann... die Entwicklung des Ortes, ja, des ganzen Landes, blieb stehen. Die reichen Russen stürzten und stürzen sich nach wie vor nur auf das mittlerweile ziemlich schicke Jūrmala (Rigaer Strand). Doch nach Ķemeri, eigentlich nicht weit von Jūrmala entfernt, will keiner mehr. 

Das „Weiße Schiff“, das große Badehaus, der Wasserturm, der Teepavillon und die schönen Brücken sind vermutlich noch jahrzentelang dem Verfall preisgegeben. Und die Kempinsky-Gruppe verbucht ihr Hotel vermutlich einfach nur als Fehlinvestition und setzt diese von den Steuern ab. Irgendwann wird schon jemand kommen, der es kaufen wird. Die Preise gehen in Lettland ja nicht mehr runter.

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