Vorgestern, am 23. August, feierte ganz Riga den 25. Jahrestag der über
600 Kilometer langen Menschenkette von Vilnius nahe der polnischen
Grenze bis nach Tallinn nahe der finnischen Grenze. Dieses Ereignis
ebnete den Weg der baltischen Staaten, um nach fast 50 Jahren
sowjetischer Besatzung endlich wieder unabhängig zu werden.
Die Menschen demonstrierten damals gegen das geheime Zusatzprotokoll
des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, das am 23. August 1939
unterzeichnet wurde und sich 1989 zum fünfzigsten Mal jährte. Mit
diesem Abkommen wurde quasi das Ende der lettischen Unabhängigkeit
besiegelt, denn die beiden Großmächte vereinbarten, dass Lettland
von nun an zur sowjetischen Einflusssphäre gehören würde.
Nur eine Woche später begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall
Deutschlands auf Polen, am 17. September überschritten auch die
Sowjets die polnische Grenze, am fünften Oktober wurde die lettische
Regierung gezwungen, ein Beistands- und Stützpunktabkommen zu
unterzeichnen, am 31. Oktober wurde mit der Unterzeichnung des
Umsiedelungsvertrages zwischen dem Deutschen Reich und Lettland die
Geschichte der Deutschbalten in Lettland kurzerhand für beendet
erklärt (die anschließend nach Deutschland oder in die eroberten
Gebiete Polens umgesiedelt wurden), und am 17. Juni 1940 besetzten
die sowjetischen Truppen Lettland.
Danach
begannen die wohl schlimmsten Jahre der lettischen Geschichte, als
die Sowjets im Juni 1941 ungefähr 15 000 Letten nach Sibirien
deportierten und im März 1949 noch einmal 44 000 Letten (die Zahlen
stammen vom Lettischen Institut). Vor diesem Hintergrund ist es
durchaus nachvollziehbar, dass ein großer Teil der lettischen
Bevölkerung froh war, als Nazi-Deutschland die Sowjetunion angriff
und in Riga einmarschierte.
Die
Geschichte ist brutal, und ich möchte an dieser Stelle gar nicht
weiter ausführen, wie die Deutschen unter gütiger Mithilfe
zahlloser lettischer Nazi-Kollaborateure über 90 Prozent der
jüdischen Bevölkerung ausrotteten, und wie nach dem erneuten
Einmarsch der Sowjettruppen bestimmt 120 000 Letten die ungewisse
Reise ins Exil antraten, meistens Richtung Deutschland, Schweden,
Nordamerika und Brasilien.
Und
nun diese Feierlichkeiten für diese grandiose Menschenkette, die es
in dieser Art noch nie in Europa gegeben hat. Den Anfang machte eine
internationale Konferenz am 21. und 22. August in den Räumen der
Universität und des ehemaligen KGB-Hauses mit dem Namen „The
Baltic Way“, bei der renommierte Wissenschaftler, Journalisten und
Politiker über die Lehren diskutierten, die man aus den
Geschehnissen der letzten 25 Jahre ziehen sollte. Die Veranstaltung
wurde nicht nur von der Stiftung Riga 2014, sondern auch von der
Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga mitorganisiert. Und so war es auch
keine Überraschung, dass ein CDU-Politiker wie Norbert Lammert, der
gegenwärtige Bundestagspräsident, die Eröffnungsrede hielt (neben
weiteren Ansprachen). Zum Abschluss der zweitätigen Konferenz wurde
im Innenhof des ehemaligen KGB-Gebäudes eine Gedenkveranstaltung an
die Opfer des KGB Lettland abgehalten und einige Lichter vor der
Gedenktafel an der Außenfassade des Gebäudes hingestellt.
Vorgestern,
am 23. August, aber war ein Festtag, der Jubiläumstag, dessen
Höhepunkt ein großes Konzert direkt am Freiheitsdenkmal war, mit
dem Sinfonieorchester aus Libau (Liepāja)
und Sängern aus allen baltischen Staaten. Und
ich, ich war dabei, mittendrin, ein Teil des Ganzen – und fühlte
mich irgendwie auch ein ganz kleines bisschen als Lette. Konnte
zumindest nachempfinden, was diese Nation, die von so vielen
Großmächten auf brutalste Weise ausgenutzt wurde, durchgemacht hat
und immer noch durchmacht. Denn die Wunden sind noch lange nicht
verheilt, die historischen Konflikte noch lange nicht Geschichte.
Natürlich
wurden Reden gehalten, kurze Ansprachen, von Laimdota
Straujuma, der lettischen Ministerpräsidentin, von Algirdas
Butkevičius, dem litauischen Premierminister, und von Taavi Rõivas
aus Estland. Viel mehr Applaus erhielt aber Dainis Īvāns, ein
lettischer Journalist und Politiker, der im Jahr 1986 große
Bekanntheit aufgrund seines energischen und letztendlich
erfolgreichen Widerstandes gegen den Bau eines zweiten Staudamms auf
der Düna (Daugava) bei Dünaburg (Daugavpils) erlangte. Er zählt zu
den Gründern der Lettischen Volksfront (Latvijas Tautas fronte), die
in Kooperation mit den Widerstandsbewegungen in Litauen und Estland
gemeinsam die Menschenkette organisierte.
Emotionaler
Höhepunkt der Feiern waren aber sicher die Lieder aus dem
erfolgreichsten Musical der lettischen Musikgeschichte, der Rockoper
„Lāčplēsis“ (von dem
Komponisten Zigmars Liepiņš und der Dichterin Māra Zālīte), die
Ende der 1980er Jahre ungeheuren Erfolg in Lettland hatte, sowie der
Auftritt von dem legendären Igo mit der ebenso legendären
Rockgruppe Remix, der damals die Hauptrolle des Bärentöters
“Lāčplēsis“
gepielt und gesungen hatte. Das Publikum flippte aus, und wie 1989
gaben sich alle die Hand und bildeten auf engstem Raum eine lange,
sehr lange Menschenkette. Gefühlt 600 Kilometer lang. Doch dann war
die Show aus und alle gingen nach Haus, und aus der
(russischsprachigen?) Diskothek gleich in der Nähe schlug wie schon
die ganze Zeit der tiefe Bass einer Art „Musik“, deren Betreiber
sich übrigens trotz einiger Bitten nicht dazu bringen ließen, diese
etwas leiser abzuspielen.